Beschluss vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220629.2bvr044722 |
Date | 29 Junio 2022 |
Judgement Number | 2 BvR 447/22 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 447/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
- Rechtsanwälte (…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Landgerichts München II |
vom 14. Februar 2022 - 12 T 4785/21 -, |
||
b) |
den Beschluss des Landgerichts München II |
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vom 20. Dezember 2021 - 12 T 4785/21 -, |
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c) |
den Beschluss des Amtsgerichts Starnberg |
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vom 14. Dezember 2021 - 730 M 2075/21 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Maidowski
und die Richterin Langenfeld
am 29. Juni 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts München II vom 20. Dezember 2021 - 12 T 4785/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München II zurückverwiesen
- Damit wird der Beschluss des Landgerichts München II vom 14. Februar 2022 - 12 T 4785/21 - gegenstandslos
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Die einstweilige Aussetzung der Zwangsvollstreckung aus dem Endurteil des Amtsgerichts Starnberg vom 12. Februar 2020 - 6 C 1072/19 - sowie aus dem Endurteil des Landgerichts München II vom 13. April 2021 - 12 S 703/20 - wird, soweit der Beschwerdeführer zur Räumung und Herausgabe der von ihm innegehabten Wohnung einschließlich Garage verurteilt worden ist, bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts über die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verlängert.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO in einem Räumungsverfahren.
1. Der 78-jährige, alleinstehende Beschwerdeführer bewohnt seit 13 Jahren eine Mietwohnung. Er wurde mit Endurteil des Amtsgerichts vom 12. Februar 2020 aufgrund außerordentlicher fristloser Kündigung des Mietverhältnisses wegen erheblicher Gefährdung der Rechte der Vermieterin (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB) und nachhaltiger Störung des Hausfriedens (§ 569 Abs. 2 BGB) zur Räumung und Herausgabe der Mietwohnung sowie zur Zahlung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten verurteilt. Die dagegen eingelegte Berufung wies das Landgericht mit Endurteil vom 13. April 2021 zurück. Die außerordentliche Kündigung sei jedenfalls wegen Verzugs des Beschwerdeführers mit mehr als einer Monatsmiete in zwei aufeinanderfolgenden Monaten gerechtfertigt. Das Berufungsgericht räumte dem Beschwerdeführer eine Räumungsfrist bis zum 30. September 2021 ein.
2. Nach einem Arztbericht vom 14. Juni 2017 hatte der Beschwerdeführer am 10. Juni 2017 ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Ausweislich mehrerer ärztlicher Atteste, die zwischen April 2020 und Mai 2021 ausgestellt wurden, leidet er an chronischen thorakalen Schmerzen mit Belastungsdyspnoe und extremer psychischer Belastung. Er könne sich schlecht konzentrieren, Termine könnten oft nicht eingehalten werden. Administrative Aufgaben würden fremdbearbeitet. Wegen der vorgenannten Erkrankung sei der Beschwerdeführer mindestens bis Ende 2021 nicht reise- und gerichtsfähig. In einem weiteren ärztlichen Attest vom 11. Januar 2021 ist beschrieben, dass der Beschwerdeführer unter multiplen chronischen Erkrankungen leide und dass bei ihm eine akute psychische Belastungssituation bestehe.
3. Der Beschwerdeführer hatte Herrn (…) eine umfassende Vorsorgevollmacht erteilt. Zwischen ihm und Herrn (…), der die Errichtung einer umfassenden Betreuung des Beschwerdeführers anregte, kam es zu Differenzen.
Nach einem – im Rahmen des Betreuungsverfahrens erstellten – psychiatrischen Gutachten vom 22. Juli 2021 leidet der Beschwerdeführer an einem komplexen diffusen Krankheitsbild mit kognitiven Beeinträchtigungen. Er sei nicht mehr in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen und einen freien Willen zu bilden. Er leide an einem beginnenden dementiellen Syndrom mit deutlich wahnhafter Komponente und an einer Persönlichkeitsstörung. Hierbei handele es sich um psychische Erkrankungen und um chronische progrediente Leiden. Der Beschwerdeführer könne krankheitsbedingt seinen Willen nicht mehr frei bestimmen beziehungsweise nicht entsprechend seiner Einsicht handeln. Das Krankheitsbild zeige einen Ausprägungsgrad, bei dem nach gutachterlicher Auffassung die Voraussetzungen zur Errichtung einer umfassenden Betreuung, auch gegen den expliziten Willen des Beschwerdeführers vorlägen. Es sei eine umfassende Unterstützung im Rahmen einer Betreuung zur Strukturierung der anstehenden Probleme erforderlich. Die psychischen Erkrankungen würden, dem beginnenden Verlauf folgend, auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Erfahrungsgemäß zeige ein derartiges Krankheitsbild wenig Tendenz zur Stabilisierung. Die Voraussetzungen für eine Betreuung bestünden voraussichtlich bis auf Weiteres und sollten in einem Zeitraum von sieben Jahren überprüft werden. Aufgrund der Erkrankungen könne der Beschwerdeführer nicht mehr Sorge für seine persönlichen Angelegenheiten tragen. Für Suizidalität des Beschwerdeführers sah der Sachverständige keinen Anhalt.
Mit nicht verfahrensgegenständlichem Beschluss vom 2. Dezember 2021 wurde durch das Betreuungsgericht für den Beschwerdeführer eine Betreuung mit begrenztem Aufgabenkreis (Geltendmachung von Rechten des Beschwerdeführers gegenüber dem Bevollmächtigten ) errichtet und insoweit einer seiner Bevollmächtigten des hiesigen Verfahrens zum Betreuer bestellt.
4. Zur Vollstreckung des Räumungsurteils wurde zunächst ein Räumungstermin auf den 21. Dezember 2021 festgelegt. Dieser Termin wurde später aufgehoben, was dem Beschwerdeführer nach seinem Vortrag allerdings nicht sofort mitgeteilt worden ist.
a) Mit Schriftsatz vom 29. November 2021 stellte der Beschwerdeführer einen Vollstreckungsschutzantrag. Er begehrte, die Zwangsvollstreckung hinsichtlich des Räumungsanspruchs zeitlich unbefristet zu untersagen und bis zu einer Entscheidung über den Vollstreckungsschutzantrag die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungstitel hinsichtlich des Räumungsanspruchs einstweilen einzustellen. Unter Hinweis auf den Arztbericht vom 14. Juni 2017 und eines der im Mai 2021 ausgestellten ärztlichen Atteste begründete der Beschwerdeführer den Vollstreckungsschutzantrag mit seinem Gesundheitszustand. Aufgrund des sich wesentlich verschlechternden gesundheitlichen Zustands, des Alters, der Mietdauer und der psychischen Erkrankung bestehe eine deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung. Dies begründe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer seine Autonomie verliere und bald zum Pflegefall werden könne. Die Beschwernisse eines Umzugs oder gar einer Zwangsräumung würden die konkrete Gefahr mit sich bringen, dass der Beschwerdeführer jegliche Orientierung verliere. Schon der Gedanke an die Aufgabe seiner Wohnung versetze ihn in panische Angstzustände und in eine schwere depressive Verstimmung. Im Falle einer Zwangsräumung bestehe eine konkrete Suizidgefahr. Insoweit beantragte der Beschwerdeführer die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Eine Besserung des psychischen und physischen Zustands des Beschwerdeführers sei nicht in Sicht. Daher sei es ausnahmsweise gerechtfertigt, die Zwangsvollstreckung ohne zeitliche Befristung zu untersagen. Etwaige Belange der Vermieterin müssten hinter dem verfassungsrechtlich garantierten Recht des Beschwerdeführers auf Leben zurücktreten. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer schon angekündigt habe, er werde alle Rückstände ausgleichen und die laufende monatliche Nutzungsentschädigung pünktlich bezahlen. Auch sei der Beschwerdeführer aufgrund seiner Erkrankungen und seines chronisch progredienten Leidens selbst nicht zur Bewältigung seiner Angelegenheiten in der Lage. Er habe bereits Schwierigkeiten, einfache administrative Angelegenheiten zu klären und zu erledigen, weshalb er hierbei von einem seiner Prozessbevollmächtigten unterstützt werde.
Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2021 legte der Beschwerdeführer das im Betreuungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten vom 22. Juli 2021 vor.
b) Die Vermieterin trat dem Vollstreckungsschutzantrag entgegen. Eine erhebliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Beschwerdeführers aufgrund der Räumung sei nicht zu befürchten.
Es würden noch erhebliche Zahlungsrückstände in genau bezifferter, vierstelliger Höhe bestehen.
c) In seiner Duplik vom 10. Dezember 2021 trug der Beschwerdeführer zur Begründung des Vollstreckungsschutzantrags erneut vor, seine psychischen Erkrankungen würden sich bei einer Zwangsvollstreckung wesentlich verschlechtern. Bei diesen Erkrankungen handele es sich – wie in dem vom Beschwerdeführer vorgelegten, im Rahmen des Betreuungsverfahrens erstellten Gutachten vom 22. Juli 2021 festgestellt – um chronische progrediente Leiden. Im Vollstreckungsfall bestehe eine ganz erhebliche Suizidgefahr. Abermals beantragte der Beschwerdeführer insoweit die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Es komme hinzu, dass der Beschwerdeführer auch aufgrund seiner psychischen und körperlichen Erkrankung...
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