Beschluss vom 19. Mai 2023 - 2 BvR 78/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230519.2bvr007822 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2023 - 2 BvR 78/22 -, Rn. 1-39, |
Judgement Number | 2 BvR 78/22 |
Date | 19 Mayo 2023 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 78/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter: (…) -
gegen |
das Endurteil des Landgerichts Regensburg vom 14. Dezember 2021 - 24 O 242/21 (2) - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Maidowski,
Offenloch
am 19. Mai 2023 einstimmig beschlossen:
- Das Endurteil des Landgerichts Regensburg vom 14. Dezember 2021 - 24 O 242/21 (2) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
- Das Urteil wird aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Geltendmachung einer Geldentschädigung nach gerichtlicher Feststellung der Rechtswidrigkeit einer mit vollständiger Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung eines Strafgefangenen.
I.
1. Der Beschwerdeführer verbüßt seit 2009 eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt (…).
2. Mit Verfügung vom 25. Februar 2019 genehmigte die Justizvollzugsanstalt gemäß Art. 91 BayStVollzG für den Monat März 2019 die körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung an jedem sechsten Strafgefangenen und an jedem achten Sicherungsverwahrten nach einer Besuchsvorführung. Davon solle abgesehen werden, soweit die Gefahr des Missbrauchs des Besuchsrechts besonders fernliegend sei. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Besuch mit einer Amts- oder vergleichbaren Person (Polizei, Notar, Rechtsanwalt, Rechtspfleger, Gutachter, Therapeut) oder mit außenstehenden Dritten unter Verwendung einer Trennvorrichtung oder als Einzelbesuch stattgefunden habe.
3. Am 27. März 2019 erhielt der Beschwerdeführer Familienbesuch in der Cafeteria der Justizvollzugsanstalt. Nach dem Besuch wurde ihm mitgeteilt, dass er sich einer körperlichen Durchsuchung unterziehen müsse. Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, inspizierten die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt zunächst die Achselhöhlen, den Mund und die Fußsohlen. Anschließend kam es zu einer Nachschau im Intimbereich des Beschwerdeführers. Die Durchsuchung wurde schriftlich auf einem Formblatt dokumentiert, welches zwei männliche Vollzugsbedienstete unterzeichneten. Ein weiterer männlicher Bediensteter war zu Ausbildungszwecken während der Durchsuchung anwesend.
4. Gegen die Durchsuchung stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, den das Landgericht Regensburg und das Bayerische Oberste Landesgericht zurückwiesen.
5. Der hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde gab die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 23. September 2020 - 2 BvR 1810/19 - statt, weil die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzten.
6. Daraufhin stellte das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 25. November 2020 fest, dass die mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung des Beschwerdeführers am 27. März 2019 rechtswidrig gewesen sei und diesen in seinen Rechten verletzt habe. Eine Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung, die mit einer Inspizierung normalerweise verdeckter Körperöffnungen verbunden ist, greife schwerwiegend in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein (unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. November 2016 - 2 BvR 6/16 -, Rn. 29). Vorliegend habe die Durchsuchung den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht entsprochen (unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2020 - 2 BvR 1810/19 -, Rn. 27 ff.). Zwar lasse die zugrundeliegende Anordnung durch das Formblatt erkennen, dass Ausnahmen im Einzelfall möglich seien. Allerdings genüge das bloße Ankreuzen des vorgesehenen Feldes nicht den Anforderungen an die gebotene sorgfältige Ermessensausübung. Die Justizvollzugsanstalt habe ferner eingeräumt, dass die für die Entscheidung über die Durchsuchung zuständigen Bediensteten nicht über die erforderliche Ausbildung verfügten, um die Missbrauchsgefahr im Einzelfall sachgerecht prüfen zu können; der Einsatz entsprechend geschulten Personals sei personell nicht zu leisten. Insofern führte das Landgericht aus, der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei „ganz massiv“ und könne nicht durch personelle Erwägungen kompensiert werden.
7. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchsetzung einer angemessenen Entschädigung in Höhe von 1.000,00 Euro, die ihm das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 24. März 2021 für die Durchsetzung einer angemessenen Entschädigung in Höhe von 500,00 Euro bewilligte. Im Übrigen lehnte es den Antrag ab.
8. Mit Klageschrift vom 31. März 2021 nahm der Beschwerdeführer den Freistaat Bayern entsprechend der bewilligten Prozesskostenhilfe auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung in Höhe von 500,00 Euro in Anspruch. Unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2016 - 2 BvR 6/16 - und vom 23. September 2020 - 2 BvR 1810/19 - trug er vor, die Durchsuchung habe nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprochen und sei daher rechtswidrig gewesen. Da es sich um eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts gehandelt habe, die nicht auf andere Weise ausgeglichen werden könne, stehe ihm ein Schmerzensgeldanspruch gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG zu. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass gegen ihn keinerlei Verdachtsmomente bestanden hätten. Ferner sei die Durchsuchung als solche in rechtswidriger Art und Weise durchgeführt worden. Er habe sich bereits zu Beginn der Prozedur vollständig ausziehen und damit über einen längeren Zeitraum nackt vor den Beamten stehen müssen, als für die Inspizierung normalerweise verborgener Körperstellen erforderlich gewesen wäre. Schließlich verwies der Beschwerdeführer auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Roth v. Germany vom 22. Oktober 2020 - Nr. 6780/18 und 30776/18 -, in der dieser für einen vergleichbaren Fall eine Geldentschädigung in Höhe von 1.000,00 Euro pro Durchsuchung zugesprochen habe.
9. In der Klageerwiderung vom 2. Juli 2021 vertrat der beklagte Freistaat zunächst die Auffassung, die Anordnung der Durchsuchung und deren Durchführung hätten den damals nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblichen Anforderungen entsprochen. Die Praxis in der Justizvollzugsanstalt, insbesondere das Formblatt, sei stetig an die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze angepasst worden. Bei Privatbesuchen könne, zumal wenn diese in der Cafeteria der Justizvollzugsanstalt stattfänden, die Gefahr eines Missbrauchs nicht ausgeschlossen werden. Dies gelte auch für „unverdächtige“ Gefangene, die von Mitgefangenen zum Schmuggeln von Gegenständen ausgenutzt werden könnten. Schließlich habe es dem Beschwerdeführer offen gestanden, eine restriktivere Besuchsform zu wählen (Einsatz von Trennvorrichtungen), in welchem Fall die Beamten von einer Durchsuchung abgesehen hätten.
Selbst wenn man von einer Rechtsverletzung ausgehe, entfalle der Verschuldensvorwurf nach Maßgabe der im Amtshaftungsrecht geltenden Kollegialgerichts-Richtlinie. Demnach treffe den Beamten in der Regel kein Verschulden, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen habe, denn von einem Beamten könne keine bessere Rechtseinsicht verlangt werden. Da das Landgericht Regensburg und das Bayerische Oberste Landesgericht – letzteres besetzt mit drei rechtskundigen Richtern – die Durchsuchung gebilligt hätten, liege eine schuldhafte Amtspflichtverletzung nicht vor. Der zeitlich nachfolgende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 2020 - 2 BvR 1810/19 - könne ein Verschulden der Justizvollzugsanstalt denknotwendig nicht begründen. Vielmehr habe sich die Justizvollzugsanstalt durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. März 2019, mit dem die Verfassungsbeschwerde in einem vergleichbaren Verfahren nicht zur Entscheidung angenommen wurde (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats - 2 BvR 2294/18 -), bestätigt sehen dürfen. Dort habe das Bundesverfassungsgericht bereits die abstrakte Gefahr etwa des Einbringens unerlaubter Gegenstände oder von Betäubungsmitteln für die grundrechtskonforme Durchführung der Durchsuchung genügen lassen.
Die vom Beschwerdeführer angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Roth v. Germany, Urteil vom 22. Oktober 2020 - Nr. 6780/18 und 30776/18 -) sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. In rechtlicher Hinsicht sei es dort um eine verschuldensunabhängige...
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