Beschluss vom 05. November 2016 - 2 BvR 6/16
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20161105.2bvr000616 |
Judgement Number | 2 BvR 6/16 |
Date | 05 Noviembre 2016 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 6/16 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn T…, |
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 27. November 2015 - 2 Ws 711/15 -, |
b) |
den Beschluss der auswärtigen kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 14. September 2015 - SR StVK 346/15 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 5. November 2016 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 14. September 2015 - SR StVK 346/15 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 27. November 2015 - 2 Ws 711/15 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes
- Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zulässigkeit einer mit vollständiger Entkleidung und körperlicher Inspektion verbundenen Durchsuchung des strafgefangenen Beschwerdeführers vor dem Gang zum Besuch.
I.
1. Der Beschwerdeführer verbüßt seit 2010 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes in Tatmehrheit mit Diebstahl in zwei Fällen in der Justizvollzugsanstalt S.. Er wurde am 17. Mai 2015 vor dem Gang zu einem Besuch seiner Familie körperlich durchsucht und musste sich dafür vollständig entkleiden. Die körperliche Durchsuchung, die auch eine Inspektion der Körperöffnungen umfasste, war gemäß Art. 91 Abs. 2 Satz 1 des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes (BayStVollzG) genehmigt worden, wonach Gefangene durchsucht werden dürfen. Die Genehmigung hatte folgenden Wortlaut:
Am 17. Mai 2015 ist an jedem 5. Gefangenen und Sicherungsverwahrten vor der Vorführung zum Besuch, Rechtsanwalt, Notar, Polizei, u.a. eine mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung vorzunehmen. Bei Arrestanten wird bei jeder Vor- und Rückführung eine körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung angeordnet.
Handschriftlich war das Formular durch den Namen des Beschwerdeführers ergänzt und das Wort „Besuch“ unterstrichen worden. Der Beschwerdeführer weigerte sich zunächst, die Durchsuchung durchführen zu lassen, und berief sich darauf, dass diese rechtswidrig sei. Er forderte die Vorlage einer konkreten, personenbezogenen und verdachtsabhängigen Verfügung. Nachdem die eingeteilten Vollzugsbeamten ihm mehrfach die Anwendung unmittelbaren Zwangs angedroht hatten, ließ er die Durchsuchung schließlich zu. Diese verlief negativ. Aus Protest verweigerte der Beschwerdeführer anschließend ab dem 22. Mai 2015 bis jedenfalls zum 1. Juni 2015 die Nahrungsaufnahme.
2. Unter dem 26. Mai 2015 wurde von der Justizvollzugsanstalt eine Meldung gefertigt, wonach der Beschwerdeführer durch sein Verhalten bei der Durchsuchung das geordnete Zusammenleben gestört und zugleich Anordnungen der Bediensteten nicht unverzüglich Folge geleistet habe. Dies stelle einen Verstoß gegen Art. 88 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 BayStVollzG dar. Der Beschwerdeführer wurde mit der disziplinarischen Maßnahme belegt, einen Monat lang nicht über Hausgeld verfügen und am Einkauf teilnehmen zu können.
3. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer begehrte mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 1. Juni 2015 die Feststellung, dass die am 17. Mai 2015 durchgeführte körperliche Durchsuchung sowie die gegen ihn verhängte Einkaufssperre rechtswidrig seien. Ferner verlangte er die Aussetzung der gegen ihn verhängten Einkaufssperre mit sofortiger Wirkung (§ 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG). Körperliche Durchsuchungen stellten einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar und seien nur zulässig, wenn sie im Einzelfall oder wegen Gefahr im Verzug angeordnet worden seien. Dies sei hier nicht gegeben, die Kontrolle sei offensichtlich ohne ausreichende Anordnung erfolgt. Durchsuchungen wie die vorliegende dürften nicht routinemäßig und unabhängig von fallbezogenen Verdachtsgründen durchgeführt werden. Sofern die Gefahr des Einschmuggelns verbotener Gegenstände besonders fernliegend erscheine, sei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Wegen des besonderen Gewichts von Eingriffen, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berührten, habe dieser einen Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Die sofortige Aussetzung der Einkaufssperre sei geboten, da sich die Rechtsverletzung durch ihren weiteren Vollzug „manifestieren“ würde. Die besondere Eilbedürftigkeit ergebe sich auch aus der Fürsorgepflicht des Gerichts, da der Beschwerdeführer die Nahrungsaufnahme verweigere.
4. Die Justizvollzugsanstalt trug in ihrer Stellungnahme vom 3. Juni 2015 im Wesentlichen vor, der Antrag auf Aussetzung der Maßnahme sei jedenfalls unbegründet. Der Vollzug der Disziplinarmaßnahme stelle keinen derart schweren Nachteil dar, dass deren Aussetzung angezeigt wäre. Die Voraussetzungen für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme nach Art. 110 BayStVollzG hätten vorgelegen, weshalb der Antrag unbegründet sei. Es habe sich um eine gemäß Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG zulässige Durchsuchung nach dem Zufallsprinzip gehandelt. Ort, Zeit, Art und Umfang der Maßnahmen seien genau durch die Anordnung bestimmt worden. Die betroffenen Gefangenen seien bestimmbar gewesen. Die Justizvollzugsanstalt S. sei eine Anstalt der höchsten Sicherheitsstufe, in der überwiegend langstrafige oder zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Gefangene einsäßen. Auch an sich unverdächtige Gefangene könnten von Mitgefangenen unter Druck gesetzt werden, unerlaubte Gegenstände oder Drogen in die Anstalt einzuschmuggeln. Die Maßnahme entspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da lediglich jeder 5. Gefangene betroffen gewesen sei.
5. Mit Beschluss vom 5. Juni 2015 wies das Landgericht Regensburg den Antrag auf Aussetzung der angefochtenen Maßnahme zurück. Die einstweilige Anordnung sei zur Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers nicht notwendig. Eine Einkaufssperre stelle einen eher geringfügigen Eingriff dar. Der Beschwerdeführer sei nicht anlässlich der Disziplinarmaßnahme in den Hungerstreik getreten, sondern bereits davor. Ferner sei der Antrag unbegründet, da die Maßnahme nach summarischer Prüfung rechtmäßig sei. Die Verhängung eines Monats Einkaufssperre sei verhältnismäßig und eine Pflichtverletzung liege vor, da der Beschwerdeführer die Anweisung der Bediensteten, die Entkleidung zu dulden, nicht unmittelbar befolgt habe. Dabei habe es sich um eine konkrete Anordnung des Anstaltsleiters gehandelt, die auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogen gewesen sei. Da jeder 5. Gefangene durchsucht werden sollte, sei der Kreis der Adressaten bestimmt und die Anordnung verhältnismäßig gewesen. Aus Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG ergebe sich, dass körperliche Durchsuchungen auch ohne konkreten Missbrauchsverdacht erfolgen könnten. Bei der Abwägung zwischen dem Erfordernis, die Sicherheit und Ordnung der Anstalt zu gewährleisten, und dem Interesse des Gefangenen an der Wahrung seiner Intimsphäre rücke das Sicherheitsinteresse der Justizvollzugsanstalt in den Vordergrund.
6. Der Beschwerdeführer trug daraufhin zu seinem Antrag in der Hauptsache ergänzend vor, er habe sich auf dem Weg zum Besuch befunden, das Einbringen von verbotenen Gegenständen sei daher besonders fernliegend gewesen. Auch eine abstrakte Gefahr setze eine Sachlage voraus, bei deren verständiger Würdigung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefahr eintreten werde.
7. In einer weiteren Stellungnahme führte die Justizvollzugsanstalt aus, eine Anordnung im Einzelfall liege auch vor, wenn Gefangene stichprobenartig und verdachtsunabhängig durchsucht würden. Dies gelte jedenfalls dann, wenn nicht alle oder nahezu alle Gefangenen vor dem Besuchskontakt durchsucht würden. Es habe sich vorliegend um eine Einzelfallanordnung in dem genannten Sinne gehandelt, und es hätten Anhaltspunkte für die Möglichkeit des Ein- und Ausschmuggelns von unerlaubten und gefährlichen Gegenständen vorgelegen, da es sich bei der Justizvollzugsanstalt S. um eine Anstalt mit höchster Sicherheitsstufe handele. Die Gefahr des Einschmuggelns sei nicht besonders fernliegend gewesen, da der Beschwerdeführer Besuch in der gelockerten Besuchsform eines Treffens in der Cafeteria erwartet habe, bei der Gefangene mit ihren Besuchern auch in körperlichen Kontakt träten. Die Möglichkeit des Einbringens bestehe jederzeit, da sich die Kontakte und Abhängigkeitsverhältnisse unter den Gefangenen schnell verändern könnten. Durchsuchungen erlangten auch im Vorfeld eines Besuchs Bedeutung, da die Möglichkeit bestehe, dass die Gefangenen Kassiber zum Besuch mitbrächten oder Gegenstände als Waffen gebrauchten, etwa um Besucher als Geiseln zu nehmen.
8. Nach Erledigung der Einkaufssperre stellte der Beschwerdeführer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung in einen Fortsetzungsfeststellungsantrag um und trug vor, das Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergebe sich aus einer Wiederholungsgefahr. Die Justizvollzugsanstalt habe für eine Abweichung von...
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