Beschluss vom 22. Juli 2022 - 2 BvR 1630/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220722.2bvr163021 |
Date | 22 Julio 2022 |
Judgement Number | 2 BvR 1630/21 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juli 2022 - 2 BvR 1630/21 -, Rn. 1-47, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1630/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm |
vom 6. August 2021 - III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21 -, |
||
b) |
den Beschluss des Landgerichts Bochum |
|
vom 11. März 2021 - V StVK 3/21 - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 22. Juli 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 - V StVK 3/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz, der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. August 2021 - III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21 - in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz; die Entscheidungen werden aufgehoben.
- Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Bochum zurückverwiesen.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der inhaftierte Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verpflichtung zur Entblößung seines Genitals bei mehreren beaufsichtigten Urinkontrollen zur Feststellung eines Suchtmittelkonsums.
I.
1. Der Beschwerdeführer verbüßte seit Juni 2014 eine Freiheitsstrafe wegen schwerer räuberischer Erpressung. Zurzeit befindet er sich im Vollzug der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Werl. Seit dem 29. Juli 2020 war er in der Justizvollzugsanstalt Bochum inhaftiert. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen von der Abteilungsleitung angeordnet und ausschließlich durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht.
2. Am 24. November 2020 wurde der Beschwerdeführer von dem Vollzugsbediensteten P. zu einem Drogentest aufgefordert. Für diese Kontrolle musste er vor dem Urinal sein Genital für Herrn P. als Aufsichtsperson frei sichtbar entkleiden und einen Becher mit Urin füllen. Am 25. November 2020 wandte sich der Beschwerdeführer mit einem Antrag an die Justizvollzugsanstalt und machte deutlich, dass er Urinkontrollen „mit (freier) Sicht auf das Genital“ als entwürdigende Maßnahme empfinde, zumal es sich bei dem kontrollierenden Beamten um seinen Betreuer gehandelt habe.
3. Am 30. November 2020 kam es erneut zu einem Drogenscreening in Form einer Urinkontrolle mit für den Vollzugsbediensteten J. sichtbar entkleidetem Genital. Herr J. teilte dem Beschwerdeführer vor der Kontrolle mit, dass sein Begehren vom 25. November 2020 von der Justizvollzugsanstalt ablehnend beschieden worden sei, einem Betreuerwechsel nicht zugestimmt werde und eine neue Drogenkontrolle in der vorherigen Form angeordnet worden sei.
4. Am 11. Dezember 2020 wurde wiederum ein Drogentest in Form einer Urinkontrolle mit entkleidetem Genital unter Aufsicht des Vollzugsbediensteten W. durchgeführt. Dieser beobachtete den Vorgang des Urinierens nicht vollständig, sondern wandte sich nach der Entkleidung des Beschwerdeführers nach einem „gezielten Blick auf (das) Genital“ zum Ausschluss etwaiger Manipulationsmöglichkeiten ab.
5. Eine weitere Drogenkontrolle fand am 28. Dezember 2020 unter Aufsicht des Vollzugsbediensteten F. in Form einer Urinkontrolle mit durchgehender Beobachtung des Genitals des Beschwerdeführers – wie am 24. und 30. November 2020 – statt.
6. Am 7. Dezember 2020 bemängelte der Beschwerdeführer die Urinkontrollen gegenüber Mitarbeitern der Justizvollzugsanstalt erneut als entwürdigend und beschämend.
7. Am 5. Januar 2021 beantragte er eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die Urinabgaben unter Sichtkontrolle am 24. und 30. November 2020 sowie am 11. und 28. Dezember 2020 rechtswidrig gewesen seien. Nach der ersten Urinprobe habe er am 25. November 2020 die Justizvollzugsanstalt ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei den durchgeführten Urinkontrollen mit freier Sicht auf das Genital um entwürdigende Maßnahmen handele. Ihm sei aber keine Alternative zur Abgabe der Urinprobe angeboten worden. Eine Verweigerung der Abgabe hätte ein sofortiges Disziplinarverfahren nach sich gezogen und sei deshalb keine Alternative gewesen. Die vier Urinproben innerhalb von vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Insbesondere der Umstand, dass die Überwachung teilweise durch Mitglieder des festen Teams seiner Abteilung erfolgt sei, berühre ihn verstärkt in seinem Schamgefühl. Die hohe Anzahl der Urinkontrollen sei auch als solche erniedrigend und entwürdigend, da der Justizvollzugsanstalt bewusst gewesen sei, dass er sich gegen diese aufgrund drohender Disziplinarverfahren nur sehr schwer hätte wehren können. Durch die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe bestehe ein Feststellungs- und Rehabilitationsinteresse sowie auch Wiederholungsgefahr. Zudem diene das Verfahren der Vorbereitung von Schadensersatz- und Amtshaftungsprozessen. Bei schwerwiegenden Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht müsse die Justizvollzugsanstalt in einem besonderen Maße die Verhältnismäßigkeit beachten.
8. Mit Schreiben vom 11. Februar 2021 entgegnete die Justizvollzugsanstalt, dass der erste Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sei, weil zuvor kein entsprechender Antrag bei ihr gestellt worden sei. Der zweite Antrag sei unbegründet. Rechtsgrundlage der Urinkontrollen sei § 65 Abs. 1 StVollzG NRW. Diese dienten der Feststellung des Suchtmittelmissbrauchs. Sie würden von gleichgeschlechtlichen Mitarbeitern der Abteilung durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, namentlich die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, sei eine Urinabgabe unter Aufsicht erforderlich. Zwar seien auch andere Maßnahmen, wie etwa die körperliche Untersuchung der Gefangenen, möglich, um Manipulationen auszuschließen. In diesem Fall seien aber auch die Körperöffnungen zu überprüfen, um Täuschungshandlungen vorzubeugen. Somit würde eine solche Maßnahme einen körperlichen und damit einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrecht eines Gefangenen darstellen. Die derzeit angewandte Maßnahme sei daher das mildeste Mittel. Da das Untersuchungsergebnis einer Urinkontrolle nur eine punktuelle Aussage über das Drogenverhalten des Getesteten treffen könne, erfordere eine sachgerechte Beurteilung des Drogenverhaltens unerwartete Drogenscreenings über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Zahl von vier Drogenscreenings innerhalb von zwölf Monaten sei vor diesem Hintergrund erforderlich und nicht unangemessen.
Die Durchführung von nicht manipulierbaren Urintests diene auch bei nicht drogenabhängigen Gefangenen deren Resozialisierung und dem Gesundheitsschutz. Die Maßnahme verletze weder die Menschenwürde, noch greife sie in die Persönlichkeitssphäre des Beschwerdeführers ein, sondern diene vielmehr seinem Gesundheitsschutz (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 3. April 2007 - 1 Vollz (Ws) 113/07 -, juris). Die Mitwirkungspflicht eines Gefangenen bestehe auch dann, wenn bei ihm kein konkreter Verdacht auf einen Missbrauch von Betäubungsmitteln vorliege (unter Bezugnahme auf OLG Hamm, Beschluss vom 4. April 2003 - 1 Vollz (Ws) 48/03 -, beck-online). Die Abgabe einer Urinprobe sei dem Beschwerdeführer auch zumutbar. Einen rechtlichen Anspruch auf eine bestimmte Art und Weise der Feststellung von Suchtmitteln gebe es nicht.
9. Der Beschwerdeführer erwiderte mit Schreiben vom 24. Februar 2021, dass kein Ermessen ausgeübt und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beachtet worden sei. Die Justizvollzugsanstalt habe nicht erkannt, dass Eingriffe in die Intimsphäre und das Schamgefühl konkret begründet werden müssten und nur zulässig seien, wenn diese unerlässlich seien. Für die von der Justizvollzugsanstalt durchgeführten Urinkontrollen dürften keine weniger hohen Anforderungen gelten als bei mit Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchungen. Die Justizvollzugsanstalt habe aber nicht einzelfallbezogen entschieden und es lägen keine konkreten Tatsachen vor, die auf einen möglichen Drogenkonsum durch ihn hinwiesen. Es sei nicht zulässig, ihn anlasslos entwürdigenden Drogenscreenings zu unterziehen. Die Blutentnahme an der Fingerbeere stelle das mildere Mittel dar.
10. Mit angegriffenem Beschluss vom 11. März 2021 verwarf das Landgericht den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet. Hinsichtlich des Antrags zu 1. verstreiche die in § 113 StVollzG normierte Dreimonats-Frist erst mit Ablauf des 6. April 2021. Der Beschwerdeführer habe vor dem 6. Januar 2021 auch keinen Antrag bei der Justizvollzugsanstalt auf Suchtmittelkontrolle durch Entnahme einer geringen Menge von Kapillarblut an der Fingerbeere gestellt.
Hinsichtlich des Antrags zu 2. seien die Urinkontrollen rechtmäßig erfolgt. Es gehöre zu den Aufgaben einer Justizvollzugsanstalt, den...
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