Beschluss vom 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rs20220721.1bvr046920 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20 -, Rn. 1-171, |
Date | 21 Julio 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 469/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juli 2022
- 1 BvR 469/20 -
- 1 BvR 470/20 -
- 1 BvR 471/20 -
- 1 BvR 472/20 -
Impfnachweis (Masern)
- Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat, der in das Erziehungsrecht der Eltern nicht ohne rechtfertigenden Grund eingreifen darf. In der Beziehung zum Kind bildet aber das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung
- Die Entscheidung über die Vornahme von Impfungen bei entwicklungsbedingt noch nicht selbst entscheidungsfähigen Kindern ist ein wesentliches Element der elterlichen Gesundheitssorge und fällt in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Ausübung der am Kindeswohl zu orientierenden Gesundheitssorge für ihr Kind sind die Eltern jedoch weniger frei, sich gegen Standards medizinischer Vernünftigkeit zu wenden, als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären
- Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wird nicht vom Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 469/20 -
- 1 BvR 470/20 -
- 1 BvR 471/20 -
- 1 BvR 472/20 -
über
die Verfassungsbeschwerden
I. |
1. der Frau (…), |
|
2. |
des Herrn (…), |
|
3. |
der Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), |
- Bevollmächtigte:
-
1. (…)
-
2. (…) -
gegen |
§ 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) |
- 1 BvR 469/20 - ,
II. |
1. der Frau (…), |
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2. |
des Herrn (…), |
|
3. |
des Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), |
- Bevollmächtigte:
-
1.(…)
-
2.(…) -
gegen |
§ 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) |
- 1 BvR 470/20 -,
III. |
1. der Frau (…), |
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2. |
des Herrn (…), |
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3. |
der Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), |
- Bevollmächtigte:
-
1.(…)
-
2.(…) -
gegen |
§ 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) |
- 1 BvR 471/20 - ,
IV. |
1. der Frau (…), |
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2. |
des Herrn (…), |
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3. |
des Minderjährigen (…), vertreten durch die Eltern (…), |
- Bevollmächtigte:
-
1.(…)
-
2.(…) -
gegen |
§ 20 Absatz 8 Satz 1 bis 3 in Verbindung mit Absatz 9 Satz 1 und 6 und Absatz 12 Satz 1 und 3 sowie in Verbindung mit Absatz 13 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) |
- 1 BvR 472/20 -
hat das Bundesverfassungsgericht ‒ Erster Senat ‒
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel
am 21. Juli 2022 beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerden werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der durch das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention vom 10. Februar 2020 (Bundesgesetzblatt I Seite 148) eingefügte § 20 Absatz 8 Satz 3 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen in Übereinstimmung mit den Gründen dieser Entscheidung (C II 4 a) verfassungskonform auszulegen ist.
A.
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Bestimmungen, die durch das am 1. März 2020 in Kraft getretene Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl I S. 148) in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz ‒ IfSG) eingefügt wurden. Die von sämtlichen Beschwerdeführenden angegriffenen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes verlangen in § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG für bestimmte Personen den Aufweis eines ausreichenden Impfschutzes oder einer Immunität gegen Masern sowie in § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG bei Betreuung in Kindertageseinrichtungen oder der Kindertagespflege einen im Gesetz konkretisierten Nachweis über die Impfung oder die Masern-immunität. Auf Anforderung ist der Nachweis gemäß § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG dem Gesundheitsamt vorzulegen, das bei ausbleibender Vorlage das Betreten bestimmter Gemeinschaftseinrichtungen untersagen kann. Für die noch minderjährigen Beschwerdeführenden erlegt § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG ihren sorgeberechtigten Eltern, den übrigen Beschwerdeführenden, auf, die Nachweis- und Vorlagepflicht aus § 20 Abs. 9 Satz 1 und Abs. 12 Satz 1 IfSG zu erfüllen.
Die minderjährigen Beschwerdeführenden sehen sich dadurch in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die übrigen Beschwerdeführenden in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Ferner wird eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG gerügt.
I.
Die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes in der ursprünglich angegriffenen Fassung des Art. 1 des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl I S. 148) lauten wie folgt:
§ 20 Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe
(8) 1 Folgende Personen, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind, müssen entweder einen nach den Maßgaben von Satz 2 ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres eine Immunität gegen Masern aufweisen:
1. Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut werden,
2. Personen, die bereits vier Wochen
a) in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 4 betreut werden oder
b) in einer Einrichtung nach § 36 Absatz 1 Nummer 4 untergebracht sind, und
3. Personen, die in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig sind.
2 Ein ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, wenn ab der Vollendung des ersten Lebensjahres mindestens eine Schutzimpfung und ab der Vollendung des zweiten Lebensjahres mindestens zwei Schutzimpfungen gegen Masern bei der betroffenen Person durchgeführt wurden. 3 Satz 1 gilt auch, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten. 4 Satz 1 gilt nicht für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können.
(9) 1 Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig werden sollen, haben der Leitung der jeweiligen Einrichtung vor Beginn ihrer Betreuung oder ihrer Tätigkeit folgenden Nachweis vorzulegen:
1. eine Impfdokumentation nach § 22 Absatz 1 und 2 oder ein ärztliches Zeugnis, auch in Form einer Dokumentation nach § 26 Absatz 2 Satz 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, darüber, dass bei ihnen ein nach den Maßgaben von Absatz 8 Satz 2 ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht,
2. ein ärztliches Zeugnis darüber, dass bei ihnen eine Immunität gegen Masern vorliegt oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können oder
3. eine Bestätigung einer staatlichen Stelle oder der Leitung einer anderen in Absatz 8 Satz 1 genannten Einrichtung darüber, dass ein Nachweis nach Nummer 1 oder Nummer 2 bereits vorgelegen hat.
[…]
6 Eine Person, die ab der Vollendung des ersten Lebensjahres keinen Nachweis nach Satz 1 vorlegt, darf nicht in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut oder in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 beschäftigt werden.
[…]
(12) 1 Folgende Personen haben dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach Absatz 9 Satz 1 vorzulegen:
1. Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33...
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