Beschluss vom 22. März 2022 - 2 BvE 9/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:es20220322.2bve000920 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22. März 2022 - 2 BvE 9/20 -, Rn. 1-46, |
Date | 22 Marzo 2022 |
Judgement Number | 2 BvE 9/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 22. März 2022
2 BvE 9/20
- Die Reichweite des Mitwirkungsrechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wird durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht einer Fraktion aus § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, im Präsidium mit mindestens einem Vizepräsidenten vertreten zu sein, steht unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten
- Die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG ist frei. Ein Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Steuerung und Einengung der Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG durch prozedurale Vorkehrungen scheidet daher aus
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 9/20 -
über
den Antrag festzustellen,
dass der Deutsche Bundestag dadurch gegen die Rechte der Antragstellerin aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes – Recht auf Gleichbehandlung als Fraktion sowie Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – und gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Organtreue verstoßen hat, dass er alle bislang von der Antragstellerin vorgeschlagenen Abgeordneten für die Wahl einer Vizepräsidentin beziehungsweise eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages mehrheitlich abgelehnt hat, ohne durch geeignete verfahrensmäßige Vorkehrungen sicherzustellen, dass solche Ablehnungen nicht von sachwidrigen Gründen bestimmt werden |
Antragstellerin: |
AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
Antragsgegner: |
Deutscher Bundestag, |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König
Huber
Hermanns
Müller
Maidowski
Langenfeld
Wallrabenstein
am 22. März 2022 nach § 24 BVerfGG einstimmig beschlossen:
- Der Antrag wird verworfen.
- Der Antrag der Antragstellerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt.
A.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des Organstreits dagegen, dass keiner der von ihr vorgeschlagenen Abgeordneten zur Stellvertreterin oder zum Stellvertreter des Präsidenten des 19. Deutschen Bundestages gewählt worden ist und der Antragsgegner keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen geschaffen hat.
I.
1. In seiner konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017 beschloss der 19. Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und gegen die Stimmen der Abgeordneten der Antragstellerin die Weitergeltung des bisherigen Geschäftsordnungsrechts, hierunter auch § 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (im Folgenden: GO-BT). Dieser sieht für die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter (Vizepräsidenten), die gemeinsam das Präsidium bilden und auch Mitglieder im Ältestenrat sind, folgende Regelung vor:
(1) Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§ 49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode. Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.
(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden. Ergibt sich auch dann keine Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, findet ein dritter Wahlgang statt. Bei nur einem Bewerber ist dieser gewählt, wenn er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Bei mehreren Bewerbern kommen die beiden Bewerber mit den höchsten Stimmenzahlen in die engere Wahl; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los durch die Hand des amtierenden Präsidenten.
(3) Weitere Wahlgänge mit einem im dritten Wahlgang erfolglosen Bewerber sind nur nach Vereinbarung im Ältestenrat zulässig. Werden nach erfolglosem Ablauf des Verfahrens nach Absatz 2 neue Bewerber vorgeschlagen, ist neu in das Wahlverfahren gemäß Absatz 2 einzutreten.
Auf Antrag aller Fraktionen legte der Bundestag in seiner konstituierenden Sitzung außerdem die Anzahl der Stellvertreter des Präsidenten des Bundestages auf sechs fest. Für alle Fraktionen – bis auf die Antragstellerin – wurden in der konstituierenden Sitzung im ersten Wahlgang die vorgeschlagenen Kandidaten zu Stellvertretern und Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten gewählt. Der von der Antragstellerin zur Wahl vorgeschlagene Abgeordnete erhielt in keinem der drei Wahlgänge die nach § 2 Abs. 2 GO-BT erforderliche Mehrheit.
2. Im weiteren Verlauf der Legislaturperiode schlug die Antragstellerin zwischen November 2018 und Januar 2020 vier weitere Abgeordnete vor, die ebenfalls in keinem der jeweils durchgeführten drei Wahlgänge, zuletzt am 7. Mai 2020, die erforderliche Mehrheit erzielten.
3. Daraufhin brachten mehrere Abgeordnete der Antragstellerin einen Antrag zur „Auslegung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, hier: § 2 Absatz 1 Satz 2 GO BT und § 126 GO BT“ in den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ein. Gegenstand des Antrags war die in zwölf Einzelfragen untergliederte Frage, „ob § 2 GO-BT dahingehend auszulegen ist, dass die Abgeordneten des Bundestages verpflichtet [sind], einen Kandidaten der AfD-Fraktion als Vizepräsidenten zu wählen und ob die AfD-Fraktion das Recht hat, nach mehreren erfolg-losen Kandidaten einen Abgeordneten zum Vizepräsidenten zu ernennen“ (Ausschussdrucksache 19 - G - 51 vom 27. Oktober 2020).
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung behandelte den Antrag am 29. Oktober 2020. Nach einer Diskussion über die Frage, ob § 2 GO-BT einer Auslegung durch den Ausschuss überhaupt zugänglich sei, einigte sich die Mehrheit der Ausschussmitglieder darauf, den Antrag zur Kenntnis zu nehmen und nicht in der Sache zu entscheiden.
4. Nach Einleitung des Organstreitverfahrens stellte die Antragstellerin einen weiteren ihrer Abgeordneten als Stellvertreter des Bundestagspräsidenten zur Wahl, der in den drei Wahlgängen im November 2020, im April 2021 und im Juni 2021 nicht die erforderliche Mehrheit auf sich vereinen konnte.
5. Mehrere Abgeordnete der Antragstellerin brachten in das Plenum des Bundestages den Antrag ein, dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung aufzugeben, die zwölf von ihnen formulierten Fragen insbesondere zur Anwendung von § 2 GO-BT „auszulegen“ (BTDrucks 19/26228). Das Plenum überwies den Antrag am 28. Januar 2021 an den Ausschuss (vgl. Plenarprotokoll 19/206 der 206. Sitzung vom 28. Januar 2021, S. 25946D), der den Auslegungsantrag in seiner Sitzung vom 11. Februar 2021 zur Kenntnis nahm und in seiner Sitzung vom 25. Februar 2021 ablehnte.
II.
Mit ihrem im Organstreitverfahren erhobenen Antrag vom 4. November 2020 begehrt die Antragstellerin die Feststellung, dass der Antragsgegner sie in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie in ihrem Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung und den Grundsatz der Organtreue dadurch verletzt habe, dass er alle bislang von ihr vorgeschlagenen Abgeordneten für die Wahl einer Vizepräsidentin beziehungsweise eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages mehrheitlich abgelehnt habe, ohne durch geeignete verfahrensmäßige Vorkehrungen sicherzustellen, dass solche Ablehnungen nicht von sachwidrigen Gründen bestimmt würden.
1. Der Antrag sei zulässig. Insbesondere sei die Antragstellerin antragsbefugt. Zwar begründe die Geschäftsordnung allein keine im Organstreitverfahren rügefähigen Rechte. Gerügt werden könnten aber Verstöße gegen die Geschäftsordnung, die zugleich von der Verfassung selbst eingeräumte Rechte beeinträchtigten, sowie eine Anwendung der Geschäftsordnung, die sich nicht als gleichmäßig, fair und loyal gegenüber den Abgeordneten, Gruppen und Fraktionen erweise.
2. Der Antrag sei auch begründet. Die Antragstellerin sei in ihrem aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden Recht auf Gleichbehandlung der Fraktionen sowie in ihrem Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung verletzt. Zusätzlich ergebe sich eine wechselseitige Rücksichtnahmepflicht aus dem Verfassungsgrundsatz der Organtreue.
a) Die streng formal zu verstehende Chancengleichheit der Fraktionen komme überall zur Geltung, wo diesen durch Verfassung, Gesetz oder Geschäftsordnung eigene Rechte eingeräumt würden. Die Fraktionen müssten nach dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ihrem Stärkeverhältnis entsprechend in Ausschüssen und...
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