Beschluss vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rk20191122.2bvr051719 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. November 2019 - 2 BvR 517/19 -, Rn. (1-46), |
Judgement Number | 2 BvR 517/19 |
Date | 22 Noviembre 2019 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 517/19 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn D..., |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 14. Februar 2019 - (2) 53 AuslA 57/17 (29/17) - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin … |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 22. November 2019 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 14. Februar 2019 - (2) 53 AuslA 57/17 (29/17) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt. Er wird in diesem Umfang aufgehoben
- Die Sache wird an das Brandenburgische Oberlandesgericht zurückverwiesen
- Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seiner Bevollmächtigten
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft zur Strafverfolgung nach Russland.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch die Russische Föderation am 11. August 2017 per Diffusionsnote über Interpol ausgeschrieben. Der Ausschreibung lag ein Haftbefehl eines Bezirksgerichts in Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, vom 22. August 2013 zugrunde. Dem Beschwerdeführer wird darin zur Last gelegt, im Juli 2013 in Grosny 3,084 g Heroin besessen zu haben.
2. Der Beschwerdeführer hat Russland eigenen Angaben zufolge 2013 mit seiner Familie verlassen und am 23. August 2013 in Polen Asyl beantragt. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 11. Dezember 2013 abgelehnt. Das gerichtliche Verfahren hiergegen verlief erfolglos. Im Zuge der Prüfung eines Zweitantrags, der ebenfalls abgelehnt wurde, hob ein Verwaltungsgericht in Warschau den Ablehnungsbescheid auf, weil der polnischen Behörde nicht alle Unterlagen vorgelegen hätten. Das Verfahren wurde mit Bescheid der polnischen Ausländerbehörde vom 1. Juni 2016 eingestellt, weil der Beschwerdeführer sich nicht mehr in Polen befunden habe. Am 11. März 2015 beantragte der Beschwerdeführer in Deutschland Asyl. Mit Bescheid vom 14. Juli 2016 wurde der Antrag als unzulässiger Zweitantrag abgelehnt. Dagegen ist eine Klage beim Verwaltungsgericht anhängig.
3. Am 10. November 2017 wurde der Beschwerdeführer in Elsterwerda vorläufig festgenommen. Bei seiner richterlichen Anhörung vor dem örtlichen Amtsgericht erklärte er sich weder mit der Auslieferung einverstanden, noch verzichtete er auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes. Er gab an, er halte die Auslieferung für politisch motiviert. Das Heroin sei ihm untergeschoben worden. Zudem entsprächen die Haftbedingungen im Zielstaat nicht den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
4. Mit Beschluss vom 15. Februar 2018 ordnete das Brandenburgische Oberlandesgericht die Auslieferungshaft bei gleichzeitiger Aussetzung des Vollzugs an.
5. Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2018 beantragte der Beschwerdeführer, die Auslieferung für unzulässig zu erklären; hilfsweise, ihn nach § 30 Abs. 2 IRG persönlich anzuhören und nach § 10 Abs. 2 IRG eine Darstellung der Tatsachen anzufordern, worauf sich die Gewichtsangabe von 3,084 g des angeblichen Drogenfundes beziehe und wie hoch der Wirkstoffgehalt sei. Äußerst hilfsweise sei die Auslieferung nur unter Bedingungen für zulässig zu erklären.
Die Auslieferung sei schon unzulässig, weil die Details der ihm vorgeworfenen Handlung unklar seien. Zudem liege ein Auslieferungshindernis vor. Nach ständiger Rechtsprechung müssten eine Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte des ersuchenden Staates mit dem nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard vereinbar sein. Die Situation, die den Beschwerdeführer in Tschetschenien erwarte, genüge diesen Voraussetzungen nicht. Schon die Haftbedingungen in Russland entsprächen nicht den Anforderungen des Art. 3 EMRK. Zudem sei der Beschwerdeführer 2013 nahe seiner Arbeitsstelle verhaftet worden, bei einer Durchsuchung vor Ort sei aber nichts gefunden worden. Erst auf der Polizeiwache habe man ihm eine kleine Tüte mit weißem Pulver gezeigt und ihm eröffnet, dass er Drogen besessen haben soll. Die Polizisten hätten ihm gedroht und ihn dazu gezwungen, mehrere Dokumente zu unterschreiben. Zudem hätten die Polizei und ein ihm nicht bekannter Anwalt Geld von ihm verlangt. Daneben gebe es Widersprüche im russischen Fahndungsersuchen.
Schließlich sei die Auslieferung auch nach § 6 Abs. 2 IRG unzulässig. Es lägen ernstliche Gründe für die Annahme vor, dass der Beschwerdeführer politisch verfolgt werde, weil er zu einer als oppositionell bekannten (Groß-)Familie gehöre. Er habe im ersten Tschetschenienkrieg 1994 bis 1996 gekämpft, sein Cousin auch im zweiten Tschetschenienkrieg. Seine Familie habe sich nie den Machthabern angeschlossen. Der Sohn des Beschwerdeführers sitze im Gefängnis und sei dort misshandelt worden. Der Beschwerdeführer selbst sei 2010, 2011 und 2012 festgenommen und jeweils schwer misshandelt worden. Bei allen Festnahmen sei ihm die Verwandtschaft zu seinem Cousin vorgehalten worden. Er fürchte weitere Erlebnisse wie diese. Überdies werfe es Fragen auf, warum Russland bei einem vergleichsweise geringen Drogendelikt ein so umfangreiches Auslieferungsverfahren betreibe. Da der Beschwerdeführer seit den Misshandlungen stark stottere und unter psychischen Problemen leide, sei er derzeit in Behandlung. Bezüglich des Nachweises für seine politische Verfolgung befinde er sich in Beweisnot. Es komme in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit seiner Angaben an. Daher sei er persönlich zu vernehmen. Auch im deutschen Asylverfahren sei er noch nicht persönlich angehört worden.
6. Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2019 nahm der Beschwerdeführer weiter Stellung. Er habe im polnischen Asylverfahren, dessen Unterlagen zwischenzeitlich durch das Oberlandesgericht beigezogen wurden, im Wesentlichen dieselben Fluchtgründe angegeben, die er in Deutschland geltend gemacht habe. Die Asylanträge in Polen seien mit der Begründung abgelehnt worden, dass die polnischen Behörden seinen Vortrag zur politischen Verfolgung nicht für glaubhaft gehalten hätten. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass es ihm schwerfalle, über die Misshandlungen zu sprechen. Mittlerweile sei bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden und er befinde sich in Therapie. Die Folter, von der er seiner Psychologin berichtet habe, habe auch körperliche Auswirkungen gehabt. Eine abschließende Bewertung seines polnischen Asylantrags stehe zudem aus, denn die ablehnenden Bescheide seien durch ein Urteil des Berufungsgerichts in Polen aufgehoben worden.
7. Mit angegriffenem Beschluss vom 14. Februar 2019 erklärte das Brandenburgische Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers unter der Maßgabe für zulässig, dass die Untersuchungshaft, das Gerichtsverfahren und eine sich möglicherweise anschließende Strafhaft nicht in dem Föderationskreis Nordkaukasus, sondern in einer anderen Region der Russischen Föderation vollzogen, durchgeführt und vollstreckt würden, dem Beschwerdeführer im gerichtlichen Verfahren alle Möglichkeiten der Verteidigung, einschließlich der Stellung eines anwaltlichen Beistands mit ungehindertem Zugangsrecht, offen stünden, er im Falle seiner Inhaftierung in einer Haftanstalt untergebracht werde, die den Anforderungen der EMRK und der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze vom 11. Januar 2006 entspreche, und dass Mitglieder des Konsulardienstes der deutschen Botschaft ihn jederzeit zwecks Kontrolle der Einhaltung der Bedingungen besuchen dürften.
Das Oberlandesgericht führte aus, es bestehe kein Auslieferungshindernis wegen drohender politischer Verfolgung. Dies sei unabhängig von einer Entscheidung im Asylverfahren zu überprüfen. Der Senat habe sowohl die Akten des Asylanerkennungsverfahrens beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens als auch die durch die polnischen Behörden übermittelten Unterlagen des polnischen Asylverfahrens eingesehen. Im Ergebnis sei nicht festzustellen gewesen, dass ernstliche Gründe für die Annahme vorlägen, der Beschwerdeführer werde aus rassischen, religiösen, nationalen oder politischen Erwägungen verfolgt oder bestraft. Seine Angaben im polnischen Asylverfahren und sein schriftsätzlicher Vortrag im Auslieferungsverfahren seien weder glaubhaft noch plausibel. Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers.
Der Zulässigkeit der Auslieferung stehe auch kein Auslieferungshindernis nach § 73 IRG in Verbindung mit Art. 3 EMRK entgegen. Im Auslieferungsverfahren sei zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen...
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