Beschluss vom 23. Mai 2018 - 2 BvR 1161/16
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20180523.2bvr116116 |
Judgement Number | 2 BvR 1161/16 |
Date | 23 Mayo 2018 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Mai 2018 - 2 BvR 1161/16 - Rn. (1-37), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1161/16 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…, |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Marcus Brinkmeier,
in Sozietät Rechtsanwälte
Dr. Oberloskamp, Weimann, Brinkmeier,
Hunsrückenstraße 40, 40213 Düsseldorf -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 29. April 2016 - III-1 Ws 150/16 -, |
b) |
den Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 10. Februar 2016 - 051 StVK 9/16 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Müller
und die Richterin Langenfeld
am 23. Mai 2018 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 29. April 2016 - III-1 Ws 150/16 - und der Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 10. Februar 2016 - 051 StVK 9/16 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 29. April 2016 - III- 1 Ws 150/16 - wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus, die zum Zeitpunkt der angegriffenen Beschlüsse seit rund 22 Jahren vollzogen wurde.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Siegen vom 16. Februar 1994 wegen sexueller Nötigung, begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB, unter Einbeziehung einer Vorverurteilung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde angeordnet.
a) Der Beschwerdeführer hatte sich am 29. Juli 1993 auf die Damentoilette einer Kaufhausfiliale geschlichen, wo er nacheinander zwei Frauen unter der Kabinentür hindurch beim Urinieren zusah. Gegenüber einer dritten Frau, der er ebenfalls unter der Kabinentür hindurch beim Urinieren zugesehen hatte, entblößte er sein Geschlechtsteil und griff ihr über der Kleidung an die Scheide. Als die Frau aufschrie, ergriff der Beschwerdeführer die Flucht. Nach den gerichtlichen Feststellungen war die Steuerungsfähigkeit des Beschwerdeführers zum Tatzeitpunkt aufgrund einer schweren Störung seiner sexuellen Entwicklung erheblich vermindert. Er leide unter einem erhöhten Triebdruck, wobei sich der Wunsch nach partnerschaftlichem Geschlechtsverkehr auf das Betrachten und Anfassen der Vagina im Sinne einer fetischistischen Fixierung verlagert habe. Der Beschwerdeführer wolle den Frauen im Grunde genommen nichts tun, so dass er an seinen Handlungen dann nicht mehr festhalte, wenn aus den Opfern Frauen mit Persönlichkeiten würden.
b) In das Urteil vom 16. Februar 1994 wurde ein Urteil des Jugendschöffengerichts Siegen vom 22. Mai 1991 einbezogen, mit welchem der Beschwerdeführer wegen sexueller Nötigung in einem Fall, exhibitionistischer Handlung in einem Fall und des Diebstahls geringwertiger Sachen in einem fortgesetzten Fall zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt worden war, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Verurteilung wegen der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer eine ihm unbekannte Frau, die mit ihrem sechsjährigen Sohn in einem Waldgebiet spazieren ging, von hinten ansprang und ihr unter Vorhaltung eines Springmessers erklärte, in ihre Scheide zu wollen. Im weiteren Verlauf beschränkte er sich darauf, seine Hose zu öffnen und sein Geschlechtsteil zu entblößen.
c) Nachdem sich der Beschwerdeführer seit Juli 1993 in Untersuchungshaft befunden hatte, wurde er am 25. Mai 1994 in den Maßregelvollzug überführt.
2. Nach Einholung einer Stellungnahme der behandelnden Klinik und nach Anhörung des Beschwerdeführers ordnete das Landgericht Düsseldorf mit angegriffenem Beschluss vom 10. Februar 2016 die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht aus, dass nach der Stellungnahme der behandelnden Klinik beim Beschwerdeführer nur noch von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, emotional instabilen und unreifen Zügen (ICD-10: F61.0) sowie - nach wie vor - von einer multiplen Störung der Sexualpräferenz (Voyeurismus, Exhibitionismus, ICD-10: F65.6) auszugehen sei. Vor dem Hintergrund dieser Stellungnahme und der Anhörung des Beschwerdeführers sei deutlich geworden, dass er trotz der ihm gewährten weitreichenden Lockerungen noch einiges an therapeutischer Arbeit vor sich habe. Die Strafvollstreckungskammer schließe sich der Auffassung der behandelnden Klinik an, wonach es zurzeit für eine bewährungsweise Aussetzung der Maßregel noch zu früh sei. Zwar befinde sich der Beschwerdeführer insgesamt auf einem guten Weg. Gleichwohl teile das Gericht die Auffassung der Klinik, dass der Beschwerdeführer weiterhin konsequent therapeutisch mitarbeiten müsse und sich die Möglichkeit einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung nicht durch bloßen Zeitablauf einstellen werde. Im Hinblick auf die ihm gewährten weitreichenden Lockerungen sei die weitere Unterbringung noch verhältnismäßig.
3. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 29. April 2016 verwarf das Oberlandesgericht Düsseldorf die sofortige Beschwerde „aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet“. Das Beschwerdevorbringen rechtfertige keine abweichende Beurteilung. Insbesondere sei mit Blick auf die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte fortbestehende hohe Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Sexualstraftaten die Fortdauer der Unterbringung ungeachtet ihres bereits sehr langen Vollzugs weiterhin verhältnismäßig. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die dem Beschwerdeführer gewährte Lockerungsstufe inzwischen zurückgeführt worden sei, nachdem er einen unbegleiteten Stadtausgang zum Besuch einer Thaimassage genutzt habe. Gerade diese jüngste Entwicklung zeige erneut, dass der Beschwerdeführer noch ein erhebliches Maß an therapeutischer Arbeit vor sich habe und vor seiner Entlassung in die Freiheit seine längerfristige Erprobung in Lockerungen unabdingbar erforderlich sei.
II.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG verletzt. Sie verstießen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil seine Verweildauer im Maßregelvollzug außer Verhältnis zur Bedeutung und Schwere der seiner Verurteilung zugrunde liegenden Anlasstaten und der von ihm ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit stehe. Die Anlasstaten seien von vergleichsweise geringer Intensität und rechtfertigten keine Freiheitsentziehung von mehr als 20 Jahren. Anhaltspunkte für einen progredienten Verlauf seiner Persönlichkeitsstörung lägen nicht vor. Die Dauer des Maßregelvollzugs betrage mittlerweile das 13,5-fache der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe. Aufgrund eines engen, konfliktfreien Verhältnisses zu seinem Bruder und seinen Eltern bestehe für ihn außerhalb des Maßregelvollzugs ein guter...
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...(§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 70, 297; zuletzt auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Mai 2018 - 2 BvR 1161/16 -, juris). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in V......
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