Beschluss vom 25. September 2020 - 2 BvR 854/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200925.2bvr085420 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. September 2020 - 2 BvR 854/20 -, Rn. 1-45, |
Judgement Number | 2 BvR 854/20 |
Date | 25 Septiembre 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 854/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau N …, |
- Bevollmächtigte:
- ... -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 6. April 2020 - 4 LZ 931/19 OVG -, |
b) |
das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 25. Juni 2019 - 4 A 711/18 HGW - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 25. September 2020 einstimmig beschlossen:
- Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 25. Juni 2019 - 4 A 711/18 HGW - verletzt die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 6. April 2020 - 4 LZ 931/19 OVG - verletzt die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 (in Worten: fünftausend) Euro festgesetzt
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist sogenannte Afro-Mauretanierin und gehört dem Volk der Peul an; ihre Muttersprache ist Wolof. Sie reiste 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. Dezember 2016 einen Asylantrag. In der persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 21. August 2017 gab sie an, einem Sklavenstamm anzugehören und keine Schulbildung zu haben. Als Kind sei sie an ihre Tante „verschenkt“ worden. Nach dem Tod der Tante 2012 sei sie nach Nouakchott zu ihrem Vater zurückgekehrt; dieser habe sie 2014 jedoch verstoßen, weil sie einen Mann habe heiraten wollen, der ebenfalls einem Sklavenstamm angehöre. Ihr Vater sei später verstorben, wofür ihr Bruder sie verantwortlich mache und hasse. Von 2014 bis 2016 habe sie bei einem befreundeten Paar gelebt; dieses sei zwischenzeitlich jedoch in die USA ausgereist. Mit dem befreundeten Paar habe sie sich in der in Mauretanien aktiven Anti-Sklaverei-Organisation „IRA“ engagiert. Im Falle einer Rückkehr nach Mauretanien befürchte sie in erster Linie eine Verfolgung wegen des Engagements für die „IRA“.
2. Mit Bescheid vom 16. April 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen und drohte der Beschwerdeführerin die Abschiebung nach Mauretanien an. Weder die geltend gemachte Mitgliedschaft in der „IRA“ noch der Konflikt mit dem Bruder rechtfertigten die Zuerkennung eines Schutzstatus. Ein Abschiebungsverbot sei gleichfalls nicht zuzuerkennen; die humanitären Bedingungen in Mauretanien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Beschwerdeführerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorläge; ihr wirtschaftliches Existenzminimum sei gesichert, da sie gesund und gebildet sei, einer beruflichen Tätigkeit nachgehen könne und keinen Unterhaltsverpflichtungen unterliege.
3. Die Beschwerdeführerin erhob Klage beim Verwaltungsgericht Greifswald. Ihr drohe in Mauretanien insbesondere geschlechtsspezifische Verfolgung durch ihren Bruder; staatlicher Schutz sei nicht zu erlangen, weil in vielen Bereichen das Recht der Scharia gelte, wonach Frauen in vielerlei Hinsicht „legal“ diskriminiert würden (Verweis auf: Human Rights Watch, „Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018“, 17. Januar 2019). Außerdem sei sie als weibliche Angehörige eines Sklavenstamms ohne Schul- und Berufsausbildung, ohne familiären Schutz und mit einer Disposition für Myome an der Gebärmutter, aufgrund derer im Falle einer Schwangerschaft eine medizinische Versorgung erforderlich würde, nicht in der Lage, in Mauretanien ihr Existenzminimum zu sichern. Mauretanien gehöre zu den ärmsten Ländern Afrikas und sei von einer großen sozialen und ökonomischen Ungleichheit zweier Klassen geprägt, wobei die Lebensbedingungen der benachteiligten Gruppe als extrem schlecht zu betrachten seien (Bezugnahme auf: Bertelsmann-Stiftung, „BTI 2018 Country Report Mauritania“, S. 16). Obwohl die Sklaverei seit Jahrzehnten offiziell abgeschafft sei, kennzeichneten die tatsächlichen Folgen der Sklaverei bis heute die Gesellschaft. Insbesondere werde die gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration freigelassener Sklaven nicht aktiv gefördert und gerade die Gruppe der besonders schutzbedürftigen Frauen in keiner Hinsicht unterstützt. Vielmehr stünden gerade auch staatliche Behörden und Entscheidungsträger der Überwindung der bestehenden Schwierigkeiten im Weg (Verweis auf: Gesellschaft für bedrohte Völker, „Esclavage en Mauritanie: échec de la feuille de route“, Nr. 79, 26. Februar 2016, S. 33 f.).
4. Am 25. Juni 2019 fand die mündliche Verhandlung statt; zuvor hatte das Verwaltungsgericht der Beschwerdeführerin die Erkenntnismittelliste der Kammer zu Mauretanien übermittelt, die auch die von der Beschwerdeführerin in Bezug genommene Stellungnahme der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 26. Februar 2016 enthielt. Die Beschwerdeführerin gab zu ihren Lebensbedingungen in Mauretanien an, im Zeitraum 2014 bis 2016 von dem befreundeten Paar unterstützt worden zu sein. Der Mann ihrer Freundin habe viel Geld gehabt und eine Französischlehrerin engagiert, die ihr Lesen und Schreiben beigebracht habe. Auf Nachfrage, was sie aktuell in Deutschland mache, antwortete sie, dass sie fünf Monate die Sprachschule besucht und sechs Monate im Dorint-Hotel als Küchenhilfe gearbeitet habe. Auf weitere Nachfrage, ob sie noch Unterstützung in Mauretanien habe, gab sie an, dort niemanden mehr zu haben. Die einzige Möglichkeit für sie, als Frau ohne Papiere und ohne Familie in Mauretanien zu arbeiten, sei, wieder als Sklavin in einem Haushalt zu leben. Ihre Schwester, zu der kein Kontakt mehr bestehe, lebe ebenfalls als Sklavin. Die Beschwerdeführerin beantragte, zum Beweis der Tatsache, dass sie in ihrer spezifischen Situation im Hinblick auf ihr Geschlecht, ihre Abstammung, fehlende Schulbildung und Ausbildung sowie ihre Vorerkrankung ohne familiäres oder vergleichbares Netzwerk im Falle einer Rückkehr nach Mauretanien nicht in der Lage sein werde, ihr Existenzminimum zu sichern, ein Sachverständigengutachten einzuholen; das Verwaltungsgericht lehnte diesen Antrag ab.
5. Mit Urteil vom 25. Juni 2019 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Die Beschwerdeführerin habe weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe ebenfalls nicht. In Fällen, in denen gleichzeitig über die Gewährung unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden sei, scheide bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK aus; Anhaltspunkte für eine vom Regelfall abweichende Konstellation seien hier nicht ersichtlich. Für die weitere Begründung werde gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid Bezug genommen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liege gleichfalls nicht vor. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin im Falle einer Abschiebung nach Mauretanien alsbald der sichere Tod drohe oder ernsthafte Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten seien; etwas anderes ergebe sich insbesondere nicht aus dem – nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechenden – Attest vom 6. Dezember 2018. Das Gericht habe mit Blick auf die Anforderungen an die Substantiierungspflicht hinsichtlich der Voraussetzungen eines krankheitsspezifischen Abschiebungsverbots auch dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht nachgehen müssen. Der Beweisantrag sei überdies ins Blaue hinein gestellt, da er rein hypothetisch und ohne Bezug zur aktuellen Lage der Beschwerdeführerin sei. Es sei schon nicht schlüssig dargelegt, dass sie über keinerlei Ausbildung verfüge, da sie selbst...
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