Urteil Nr. B 1 KR 6/19 R des Bundessozialgericht, 2019-11-19

Judgment Date19 Noviembre 2019
ECLIDE:BSG:2019:191119UB1KR619R0
Judgement NumberB 1 KR 6/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Krankenhaus - Entlassung eines Versicherten trotz erwarteter und später erfolgter kurzfristiger Wiederaufnahme zur Tumoroperation - Nichtabwarten der zeitnahen histologischen Absicherung - Anspruch auf Vergütung fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhaltens als ein Behandlungsfall - Wirtschaftlichkeitsgebot
Leitsätze

Entlässt ein Krankenhaus einen Versicherten trotz erwarteter und später erfolgter kurzfristiger Wiederaufnahme zur Tumoroperation, ohne die zeitnahe histologische Absicherung abzuwarten, hat es nur Anspruch auf Vergütung fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhaltens als ein Behandlungsfall.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. November 2018 und des Sozialgerichts Hamburg vom 19. Juni 2018 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 5706,81 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 29. Dezember 2014 zu zahlen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5706,81 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

Das nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhaus des Beklagten behandelte die bei der klagenden Krankenkasse (KK) versicherte H. (im Folgenden: Versicherte) zunächst vom 13. bis 20.1.2012 stationär, entfernte eine verdächtige Raumforderung im rechten Lungenoberlappen mittels Keilresektion (16.1.2012) und entnahm Gewebe zur Untersuchung, ob eine Metastase eines Hautkrebses (Merkelzellkarzinom), ein primäres Lungenkarzinom oder eine sonstige Raumforderung vorlag. Die Begutachtung des entnommenen Gewebes durch Pathologen ergab am ehesten ein primäres Lungenkarzinom (Bericht vom 18.1.2012); die anschließende Immunhistologie bestätigte diese Diagnose (Nachbericht vom 20.1.2012). Der Beklagte entließ die Versicherte am Morgen des 20.1.2012 (bevor der Nachbericht vorlag), wobei er eine ambulante Vorstellung zur thoraxchirurgischen Kontrolluntersuchung und Befundbesprechung für den 24.1.2012 plante. Er nahm sie an diesem Tag wieder auf und entfernte ihr während der sich bis zum 1.2.2012 anschließenden stationären Behandlung den rechten Oberlappen nebst Lymphknoten ihrer Lunge operativ. Der Beklagte berechnete für die erste Behandlung 5706,81 Euro (2.2.2012; Fallpauschale - Diagnosis Related Group DRG> 2012 E06C - Andere Lungenresektionen, Biopsie an Thoraxorganen und Eingriffe an Thoraxwand, Pleura und Mediastinum ohne äußerst schwere CC, Alter 15 Jahre) und für die zweite Behandlung 8584,51 Euro (28.2.2012; DRG E05B - Andere große Eingriffe am Thorax ohne äußerst schwere CC, bei bösartiger Neubildung). Die Klägerin beglich die beiden Forderungen (24.2. und 29.3.2012) und beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ua zu überprüfen, ob eine Fallzusammenführung angezeigt sei. Der MDK hielt lediglich die DRG E05B für berechtigt. Es handele sich medizinisch um einen durchgehenden Behandlungsfall. Die zwischenzeitliche Entlassung sei nicht medizinisch begründet gewesen. Die Klägerin forderte den Beklagten vergeblich auf, die Überzahlung zurückzuzahlen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19.6.2018). Das LSG hat die Berufung der Klägerin - unter teilweisem Verweis auf das SG-Urteil - zurückgewiesen: Es hätten weder die Voraussetzungen für eine Fallzusammenführung nach § 2 Abs 1 bis 3 Fallpauschalenvereinbarung (FPV) 2012, noch für eine Beurlaubung nach § 1 Abs 7 Satz 4 FPV 2012 vorgelegen. Eine Beurlaubung setze nach Rspr des BSG eine bereits zum Zeitpunkt der Unterbrechung der Krankenhausbehandlung beabsichtigte Wiederaufnahme voraus. Daran fehle es hier, da die weitere Behandlungsplanung vom Ergebnis der histologischen Gewebeuntersuchung abgehangen habe (Urteil vom 15.11.2018).

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 12 Abs 1, § 70 Abs 1 Satz 2 SGB V sowie von § 1 Abs 7 Satz 5 FPV 2012.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. November 2018 und des Sozialgerichts Hamburg vom 19. Juni 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr 5706,81 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 29. Dezember 2014 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende SG-Urteil zu Unrecht zurückgewiesen. Die Entscheidung der Vorinstanz verletzt revisibles Recht.

Der Klägerin steht der zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr; vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 8, alle mwN) geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von 5706,81 Euro nebst Zinsen zu (dazu 1.). Der dem Grunde nach entstandene Vergütungsanspruch (dazu 2.) belief sich der Höhe nach lediglich auf 8584,51 Euro, da die Behandlung der Versicherten innerhalb von zwei Krankenhausaufenthalten unwirtschaftlich war und das fiktive wirtschaftliche Alternativverhalten einen Vergütungsanspruch in maximal dieser Höhe begründete (dazu 3.). Die Klägerin durfte sich auf die Unwirtschaftlichkeit der Behandlung berufen (dazu 4.).

1. Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Zahlungsanspruchs ist allein der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch (zur Anwendung auf überzahlte Krankenhausvergütung vgl zB BSG SozR 4-5562 § 9 Nr 4 RdNr 9; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 9 ff mwN; stRspr). Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt ua voraus, dass der Berechtigte im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht hat (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 RdNr 15; stRspr). So liegt es hier. Der Beklagte hatte Anspruch auf Vergütung in Höhe von höchstens 8584,51 Euro für die Krankenhausbehandlung der Versicherten, sodass die Klägerin 5706,81 Euro Krankenhausvergütung überzahlte.

2. Der Beklagte hatte Anspruch auf Vergütung für die Behandlung der Versicherten im Januar 2012 wegen Lungenkarzinoms. Die Zahlungsverpflichtung einer KK - hier der Klägerin - für Krankenhausbehandlung entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iS von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (stRspr; vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13; alle mwN). Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs des Beklagten ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V (idF durch Art 1 Nr 3 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser FPG> vom 23.4.2002, BGBl I 1412) iVm § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG idF durch Art 2 Nr 7 Buchst a des Gesetzes zum ordnungspolitischen Rahmen der Krankenhausfinanzierung ab dem Jahr 2009 KHRG> vom 17.3.2009, BGBl I 534) und § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG idF durch Art 6 Nr 3 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG> vom 22.12.2011, BGBl I 2983). Der Anspruch wird auf Bundesebene durch Normsetzungsverträge (Normenverträge, Fallpauschalenvereinbarungen - FPVn) konkretisiert. Der Spitzenverband Bund der KKn und der Verband der privaten Krankenversicherung gemeinsam vereinbaren nach § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG (idF durch Art 2 Nr 9 Buchst a KHRG) mit der DKG als "Vertragsparteien auf Bundesebene" mit Wirkung für die Vertragsparteien nach § 11 KHEntgG (idF durch Art 2 Nr 11 KHRG) einen Fallpauschalen-Katalog einschließlich der Bewertungsrelationen sowie Regelungen zur Grenzverweildauer und der in Abhängigkeit von diesen zusätzlich zu zahlenden Entgelte oder vorzunehmenden Abschläge. Ferner vereinbaren sie insoweit Abrechnungsbestimmungen in den FPVn auf der Grundlage des § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 3 KHEntgG.

Es steht nach dem Gesamtzusammenhang der unangegriffenen, den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) fest, dass die Versicherte ab 13.1.2012 wegen eines Karzinoms im rechten Lungenoberlappen stationärer Krankenhausbehandlung einschließlich der durchgeführten Operationen vom 16.1.2012 und 25.1.2012 bedurfte.

3. Zu Recht streiten die Beteiligten nicht darüber, dass der Beklagte die Höhe der Vergütung auf Grundlage des tatsächlichen Geschehensablaufs zutreffend sachlich-rechnerisch berechnete (dazu a). Der Beklagte behandelte die Versicherte indes nicht in wirtschaftlicher Weise und hatte daher lediglich Anspruch auf die Vergütung, die bei fiktivem wirtschaftlichem Alternativverhalten angefallen wäre. Ein Krankenhaus hat nämlich korrespondierend mit dem Behandlungsanspruch der Versicherten einen Vergütungsanspruch gegen die KK - wie hier die Klägerin - nur für erforderliche, wirtschaftliche Krankenhausbehandlung. Behandelt ein Krankenhaus einen Versicherten unwirtschaftlich, hat...

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