Urteil Nr. B 1 KR 4/20 R des Bundessozialgericht, 2020-12-17

Judgment Date17 Diciembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:171220UB1KR420R0
Judgement NumberB 1 KR 4/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. März 2020 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine Epilation durch Elektrokoagulation (Nadelepilation) zur Entfernung der Barthaare.

Bei der als Mann geborenen Klägerin, die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versichert ist, wurde im Rahmen geschlechtsangleichender Maßnahmen aufgrund der Diagnose Mann-zu-Frau-Transsexualismus ua eine Laser-Epilation der Barthaare durchgeführt. Die Kostenübernahme für die Entfernung der nach dieser Behandlung verbliebenen weißlichen, borstigen Barthaare im Bereich der Wangenpartie, der Oberlippe und des Kinns mittels einer Nadelepilation bei einer als Elektrologistin ausgebildeten Kosmetikerin lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18.4.2018; Widerspruchsbescheid vom 15.11.2018). Zur Begründung führte sie ua aus, dass die Behandlung nur von Ärzten erbracht werden dürfe. Das SG hat die Beklagte unter Abänderung dieser Bescheide verurteilt, die Klägerin mit einer Nadelepilation zur Entfernung der Barthaare zu versorgen (Urteil vom 8.10.2019). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17.3.2020). Es handle sich bei der Nadelepilation ausweislich des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) um eine ärztliche Leistung, die nur von Vertragsärzten erbracht werden dürfe. Zugunsten der Klägerin sei zwar von einem Systemversagen auszugehen, weil sie keinen Vertragsarzt finden und die Beklagte auch keinen benennen könne, der die medizinisch notwendige Behandlung erbringe. Der Arztvorbehalt nach § 15 Abs 1 SGB V sei aber auch bei einem Systemversagen nicht verzichtbar. Schließlich könne die Beklagte auch nicht verpflichtet werden, die Klägerin durch einen (konkreten) Vertragsarzt mit der Nadelepilation zu versorgen. Es fehle an einer Rechtsgrundlage für die Verpflichtung eines Vertragsarztes durch eine KK.

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 27 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1, § 28 Abs 1 und § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V. Die Beklagte sei verpflichtet, die Klägerin mit einer (konkreten) ärztlichen Leistung in Form einer Nadelepilation zu versorgen. Sofern ein Systemversagen anzunehmen ist, weil die Klägerin weder einen Vertragsarzt noch einen Privatarzt habe finden können, der die Nadelepilation durchführe, müsse die Beklagte die Kosten der Behandlung durch eine Elektrologistin übernehmen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. März 2020 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 8. Oktober 2019 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte die Kosten einer Nadelepilation der Barthaare durch eine als Elektrologistin ausgebildete Kosmetikerin zu übernehmen hat.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten die Klage zu Recht abgewiesen. Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die beklagte KK auf künftige Kostenübernahme für eine Nadelepilation der Barthaare durch eine Kosmetikerin oder Elektrologistin.

Statthafte Klageart für das wirkliche Begehren der Klägerin auf Kostenübernahme für zukünftige Nadelepilationen durch eine Elektrologistin bzw Kosmetikerin ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und Abs 4 SGG). Das Begehren der Klägerin ist - ungeachtet des Wortlautes ihres erstinstanzlichen Antrags (vgl § 123 SGG) - dagegen nicht auf die Verurteilung der Beklagten gerichtet, sie mit einer vertragsärztlichen Nadelepilation zu versorgen. Die Klage wäre bereits unzulässig, weil es an einer ablehnenden Verwaltungsentscheidung fehlt (vgl BSG vom 28.5.2019 - B 1 KR 25/18 R - BSGE 128, 154 = SozR 4-2500 § 34 Nr 21, RdNr 8 ff). Die ablehnende Regelung in den streitgegenständlichen Bescheiden (§ 95 SGG) betraf nur den Anspruch auf eine Nadelepilation durch eine Elektrologistin. Insoweit hat das SG das wirkliche Begehren der Klägerin verkannt und hierüber nicht entschieden. Das LSG hat jedoch zu Recht auch ohne Durchführung eines Urteilsergänzungsverfahrens nach § 140 SGG das Begehren der Klägerin selbstständig ausgelegt und (auch) über diesen eigentlich geltend gemachten Anspruch entschieden (vgl BSG vom 2.4.2014 - B 3 KR 3/14 B - SozR 4-1500 § 140 Nr 2 RdNr 10; BSG vom 10.12.2013 - B 13 R 91/11 R - SozR 4-2600 § 249b Nr 1 RdNr 16). Darin lag schon deshalb kein Verstoß gegen das aus § 123 SGG abgeleitete Verböserungsverbot (Verbot der "reformatio in peius"), weil die Beklagte die Berufung eingelegt hatte (vgl BSG vom 9.3.1994 - 6 RKa 12/92 - juris RdNr 15; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 123 RdNr 5).

Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die beklagte KK auf künftige Kostenübernahme bzw -freistellung für die von ihr begehrte Nadelepilation der Barthaare durch einen nichtärztlichen Leistungserbringer (Kosmetiker oder Elektrologist) nach dem hier allein in Betracht kommenden § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (in der seit 1.7.2001 geltenden Fassung des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Hat die KK danach eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (vgl BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 3/13 R - BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 15 mwN). Die Regelung erfasst über den ausdrücklich geregelten Kostenerstattungsanspruch hinaus auch die zukünftige Kostenfreistellung bei einer Lücke im Naturalleistungssystem, die verhindert, dass Versicherte sich die begehrte Leistung im üblichen Weg der Naturalleistung verschaffen können (vgl BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 3/13 R - BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 11 mwN). Dieser Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr; vgl zB BSG vom 17.12.2019 - B 1 KR 18/19 R - BSGE 129, 290 = SozR 4-2500 § 138 Nr 3, RdNr 8 mwN). Daran fehlt es. Die Beklagte lehnte es rechtmäßig ab, Kosten für veranschlagte Leistungen einer Kosmetikerin oder Elektrologistin zu übernehmen.

1. Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs 1 Satz 1 SGB V). Dies umfasst ua die ärztliche Behandlung (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 iVm § 28 Abs 1 Satz 1 SGB V). Nach den unangegriffenen, zwischen den Beteiligten unstreitigen und den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG leidet die Klägerin unter einem behandlungsbedürftigen Mann-zu-Frau-Transsexualismus. Dies ist eine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne des SGB V, die auch einen Anspruch auf medizinisch indizierte geschlechtsangleichende Maßnahmen der Krankenbehandlung umfassen kann (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R - BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 10 ff). Der Umfang der Krankenbehandlung richtet sich unter Einbeziehung der Wertungen des § 116b Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst i SGB V nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse. Dabei ist vor allem die Zielsetzung der Behandlung zu berücksichtigen, den Körper dem empfundenen Geschlecht dann anzunähern, wenn ein entsprechend ausgeprägter Leidensdruck der Betroffenen besteht, um ihn durch die äußerliche Geschlechtsangleichung zu lindern (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R - BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 22). Der Anspruch auf geschlechtsangleichende Maßnahmen ist aber auf einen Zustand begrenzt, bei dem aus der Sicht eines verständigen Betrachters eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eintritt (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R - BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 22 f; BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 9/12 R - juris RdNr 17; BSG vom 28.9.2010 - B 1 KR 5/10 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 15). Mann-zu-Frau-Transsexuelle können wegen der Augenfälligkeit von Barthaaren deren Entfernung als (vertrags-)ärztliche Behandlung beanspruchen, um den fortbestehenden Leidensdruck weiter zu mildern, wenn nach den konkreten Umständen nur dadurch eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht werden kann (§ 28 Abs 1 Satz 1 SGB V).

Die Behandlung wird im EBM erfasst und damit als eine abrechnungsfähige vertragsärztliche Leistung (vgl § 87 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGB V) beschrieben. Sie fällt unter die arztgruppenübergreifende allgemeine Gebührenordnungsposition (GOP) 02300 und die hautärztliche GOP 10340, welche die Epilation durch Elektrokoagulation im Gesicht und/oder an den Händen bei krankhaftem und entstellendem Haarwuchs erfassen. Die männliche Bartbehaarung bei Mann-zu-Frau-Transsexualismus ist ein solcher krankhafter und zugleich regelhaft entstellender Haarwuchs. Das LSG hat - ausgehend von seiner zutreffenden Rechtsauffassung - hierzu keine Feststellungen getroffen. Dies kann weiterhin offenbleiben, weil der Anspruch bereits aus anderen Gründen ausgeschlossen ist.

2. Die Klägerin hat lediglich Anspruch auf (vertrags-)ärztliche Behandlung (dazu a). Ein Anspruch auf Freistellung von Kosten für nichtärztliche Nadelepilationsleistungen scheitert daran, dass die Behandlung durch Heilpraktiker (dazu b) und durch nichtärztliche Leistungserbringer im Rahmen vertragsärztlich verordneter Heilmittel (dazu c) zur Schließung einer Versorgungslücke (dazu d) nicht vom Leistungskatalog des SGB V umfasst ist.

a) Der Arztvorbehalt schließt...

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