Urteil Nr. B 10 EG 7/18 R des Bundessozialgericht, 2020-03-27

Judgment Date27 Marzo 2020
ECLIDE:BSG:2020:270320UB10EG718R0
Judgement NumberB 10 EG 7/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Elterngeld - Anspruchsberechtigung - Inlandswohnsitz - vorübergehender Auslandsaufenthalt der gesamten Familie - Aufrechterhaltung des Wohnsitzes in Deutschland - Schwerpunkt der Lebensverhältnisse - Prognose zu Beginn des Bezugszeitraums - Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände - keine Bindung an die Feststellung des Wohnsitzes in steuerrechtlichen Kindergeldverfahren - richterliche Überprüfung - kein Beurteilungsspielraum der Verwaltung - sozialgerichtliches Verfahren - Prognose als hypothetische Tatsache - Prognoseentscheidung der Tatsacheninstanz - Bindung des Revisionsgerichts an Tatsachenfeststellungen - Kontrollmaßstab im Revisionsverfahren - Verfassungsrecht - Inlandsbezug - Erziehung und Betreuung des Kindes im Inland - sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis - Rumpfarbeitsverhältnis
Leitsätze

Das Fortbestehen des Wohnsitzes oder ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland ist im Rahmen einer Prognose unter Berücksichtigung aller zu Beginn des elterngeldrechtlichen Bezugszeitraums erkennbaren Umstände festzustellen.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Elterngeld für die Zeit vom 2.8.2013 bis 1.8.2014 während ihres Aufenthalts in China.

Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige, verheiratet und Mutter ihrer am 2.8.2013 in China geborenen Tochter A. Vor der Geburt ihrer Tochter stand die Klägerin in Deutschland in einer Vollzeitbeschäftigung.

Vom 1.7.2013 bis 25.10.2014 arbeitete der in Deutschland bei der A. AG beschäftigte Ehemann im Rahmen eines Global Assignment Vertrags in China bei einer rechtlich selbstständigen Tochtergesellschaft, der A. (China) E. M. Co Ltd. Dort lebte die Klägerin in dieser Zeit mit ihrem Ehemann und der gemeinsamen Tochter. Eine Erwerbstätigkeit übte sie nicht aus. Ihre Wohnung in Deutschland behielt die Familie bei.

Der Ehemann hatte mit der chinesischen Tochtergesellschaft einen gesonderten (lokalen) Arbeitsvertrag geschlossen, während das Arbeitsverhältnis mit der A. AG in Deutschland ruhend gestellt wurde. Die Dauer des Auslandseinsatzes war ursprünglich bis 30.6.2014 befristet mit der Möglichkeit einer Verlängerung, von der im April 2014 Gebrauch gemacht wurde. Vertraglich richteten sich die Arbeitsbedingungen nach chinesischem Recht. Der Ehemann der Klägerin fand über einen Makler im Rahmen einer Dienstreise vor Ort in China eine 85 qm große möblierte Wohnung, die von der Familie am 2.7.2013 bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland am 25.10.2014 bezogen wurde.

Am 15.10.2013 beantragte die Klägerin Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat ihrer Tochter (2.8.2013 bis 1.8.2014). Als Wohnsitz/gewöhnlichen Aufenthalt gab sie Deutschland an. Ihr Ehemann sei derzeit als Entsandter in China beschäftigt. Da sich die Tätigkeit auf ein Jahr beschränke und sie in regelmäßigen Abständen zu Besuch nach Deutschland flögen, sei die dortige Wohnung weiterhin ihr Hauptwohnsitz.

Der Beklagte lehnte den Elterngeldantrag der Klägerin ab, weil der Ehemann einen lokalen Arbeitsvertrag mit dem chinesischen Arbeitgeber geschlossen habe und durch den länger als ein Jahr andauernden Aufenthalt in China kein Wohnsitz in Deutschland bestehe. Die Klägerin habe sich nur einmal kurz besuchsweise in Deutschland aufgehalten (1.2. bis 15.2.2014). Der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse habe in China gelegen. Es sei unerheblich, dass die Wohnung in Deutschland weiterhin zur Verfügung gestanden und jederzeit habe genutzt werden können (Bescheid vom 18.7.2014; Widerspruchsbescheid vom 3.11.2014).

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10.5.2016). Die Berufung hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 8.3.2018). Seine Entscheidung hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Die Klägerin habe in den ersten 12 Lebensmonaten ihrer Tochter während des Aufenthalts in China weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt. Der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse habe sich im streitgegenständlichen Zeitraum mit der Ankunft in China Anfang Juli 2013 ausschließlich dort befunden. In China habe man als Familie in allen Facetten gelebt. Der Ehemann sei rechtlich durch den Arbeitsvertrag an den Aufenthalt in China gebunden gewesen. Dort sei die gemeinsame Tochter geboren und in ihrer ersten Lebensphase betreut und erzogen worden. Dem stehe der ursprünglich auf ein Jahr angelegte Aufenthalt nicht entgegen, da eine Verlängerung vertraglich von Anfang an im Bereich des Möglichen gelegen habe. Im Rahmen der anzustellenden Prognose dürfe nicht übersehen werden, dass es der Klägerin gerade auf die Herstellung der familiären Gemeinschaft angekommen sei; dies überhaupt sei für sie der Grund gewesen, ihren Ehemann zu begleiten. Die Herstellung und Aufrechterhaltung der familiären Gemeinschaft sei für sie das Leitmotiv gewesen, an das sie sich gebunden gefühlt habe. Deshalb habe die Klägerin der arbeitsvertraglichen Verlängerung des Auslandsaufenthalts ihres Ehemanns zugestimmt und sei während der gesamten Verlängerungsphase dort geblieben. Durch diese komplette Hinwendung zu China sei die dort prognostisch zu verbringende Zeit lang genug gewesen, um nicht nur als unerhebliches Intermezzo zu erscheinen. Der Aufenthalt in China sei nicht neben einem parallel in Deutschland bestehenden Aufenthalt hergelaufen, sondern habe diesen bis zur Rückkehr nach Deutschland vollständig abgelöst. Der Ehemann der Klägerin sei auch nicht mit sozialversicherungsrechtlicher Ausstrahlungswirkung im Rahmen seines in Deutschland bestehenden Beschäftigungsverhältnisses nach China entsandt worden. Mit der A. AG in Deutschland habe während seines Auslandseinsatzes nur noch ein sog Rumpfarbeitsverhältnis bestanden.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I iVm § 1 Abs 1 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz - BEEG). Zu Unrecht sei das LSG von einer Wohnsitzaufgabe in Deutschland während des zunächst nur auf ein Jahr befristeten Aufenthalts in China ausgegangen. Die auf einen dauerhaften Aufenthalt ausgelegte Wohnung in Deutschland sei gerade deshalb aufrechterhalten worden, weil sie dort den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse gesehen habe. Dies sei durch den Aufenthalt in China nicht erschüttert worden, sodass der inländische Wohnsitz durch den Auslandsaufenthalt nicht eingebüßt worden sei. Zudem sei ihr während des China-Aufenthalts Kindergeld gewährt worden.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. März 2018 und des Sozialgerichts München vom 10. Mai 2016 aufzuheben sowie den beklagten Freistaat unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. November 2014 zu verurteilen, ihr Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat ihrer am 2. August 2013 geborenen Tochter A. zu gewähren.

Der beklagte Freistaat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2, § 153 Abs 1, § 165 Satz 1 SGG).

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass die Klägerin für die Zeit vom 1. bis 12. Lebensmonat ihrer Tochter keinen Anspruch auf Elterngeld hat. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

1. Die Klägerin wendet sich mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4, § 56 SGG) gegen den Bescheid des Beklagten vom 18.7.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3.11.2014 (§ 95 SGG), mit dem dieser den Antrag der Klägerin auf Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat ihrer Tochter während des Aufenthalts in China abgelehnt hat.

Die Vorinstanzen sind zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum (2.8.2013 bis 1.8.2014) kein Elterngeld zusteht, weil sie in dieser Zeit keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte (dazu unter 2.) und weder sie noch ihr Ehemann im Rahmen eines in Deutschland bestehenden Beschäftigungsverhältnisses nach China "entsandt" waren, das nach § 4 Abs 1 SGB IV dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterlag (dazu unter 3.). Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht (dazu unter 4.).

2. Einen Anspruch auf Elterngeld hat nach § 1 Abs 1 BEEG (in der hier noch maßgeblichen bis zum 31.12.2014 geltenden Fassung des Gesetzes vom 5.12.2006, BGBl I 2748), wer 1. einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, 2. mit seinem Kind in einem Haushalt lebt, 3. dieses Kind selbst betreut und erzieht und 4. keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.

Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 2 bis 4 BEEG im Fall der Klägerin vor. Denn sie lebte in einem Haushalt mit der von ihr selbst erzogenen und betreuten Tochter und übte in China keine Erwerbstätigkeit aus. Die Klägerin erfüllte allerdings nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 1 BEEG. Das LSG hat - wie zuvor bereits das SG - in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass die Klägerin während des hier entscheidungserheblichen Zeitraums vom 2.8.2013 bis 1.8.2014 weder ihren Wohnsitz (dazu unter a) noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt (dazu unter b) in Deutschland hatte.

a) Das Berufungsgericht ist rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Wohnsitz der Klägerin in Deutschland während ihres Aufenthalts in China nicht mehr fortbestanden hat. Das Fortbestehen des Wohnsitzes in Deutschland während eines Auslandsaufenthalts des Elterngeldberechtigten (dazu unter aa) ist...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT