Urteil Nr. B 10 ÜG 2/19 R des Bundessozialgericht, 2020-12-17

Judgment Date17 Diciembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:171220UB10UEG219R0
Judgement NumberB 10 ÜG 2/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 14. November 2018 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 8400 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt als einfach Beigeladene des Ausgangsverfahrens vor dem SG Magdeburg eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer.

Die Klägerin (= Entschädigungsklägerin) ist Trägerin eines Wohnheims für Suchtkranke. In dem Ausgangsverfahren vor dem SG Magdeburg (zunächst Az S 22 SO 29/11, später S 19 SO 29/11) erhob der dortige Kläger, der in dem Wohnheim der Klägerin untergebracht war, am 23.2.2011 Klage auf Gewährung von Fahrtkosten nach dem SGB XII für eine medizinisch angeordnete Fahrt zur ambulanten fachärztlichen Behandlung. In dem Verfahren S 22 SO 31/11 hatte er zeitgleich ebenfalls Klage wegen entsprechender Fahrtkosten erhoben. Das SG verband die zwei Verfahren mit Beschluss vom 10.5.2011 unter dem führenden Az S 22 SO 29/11 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. Im September 2014 fand beim SG ein Kammerwechsel statt. Das Verfahren wurde unter dem Az S 19 SO 29/11 fortgeführt. Mit Beschluss vom 10.12.2014 lud das SG auf Antrag des dortigen Klägers die Klägerin einfach bei.

Das SG bestimmte im Januar 2016 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 16.2.2016. Nach Aufhebung des Termins wegen einer Erkrankung der Kammervorsitzenden beraumte es die mündliche Verhandlung für den 14.3.2016 an. Daraufhin teilten der Bevollmächtigte des Klägers des Ausgangsverfahrens sowie der Bevollmächtigte der beigeladenen Klägerin mit, dass sie diesen Termin nicht wahrnehmen könnten, woraufhin das SG den Termin zur mündlichen Verhandlung aufhob. Im Zeitraum zwischen März und Mai 2016 erklärten sich alle Beteiligten in weiteren Schriftsätzen mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Am 17.8.2016 rügte die beigeladene Klägerin eine überlange Verfahrensdauer. Mit dem am 13.2.2017 zugestellten Urteil vom 20.9.2016 wies das SG die Klage ab.

Die Beigeladene des Ausgangsverfahrens hat am 20.3.2017 beim LSG als Entschädigungsgericht Klage auf Entschädigung wegen immaterieller Nachteile in Höhe von 8400 Euro wegen überlanger Dauer der beiden verbundenen Klageverfahren erhoben. In der mündlichen Verhandlung am 14.11.2018 hat das Entschädigungsgericht ua darauf hingewiesen, dass bei einfacher Beiladung eine besondere Begründung des Nachteils infolge einer überlangen Verfahrensdauer erforderlich, hier aber fraglich sei. Trotz Ankündigung weiteren Vortrags seitens der Klägerin aufgrund dieses Hinweises hat das Entschädigungsgericht mit Urteil vom selben Tag die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen eine Entschädigungspflicht rechtfertigenden Nachteil erlitten. Für einen einfach Beigeladenen bestehe kein Anspruch auf Beteiligung an dem Verfahren und daher auch kein Anspruch auf eine zügige Entscheidung. Bei einem einfach Beigeladenen sei im Fall einer überlangen Verfahrensdauer kein immaterieller Nachteil zu vermuten. Ein einfach Beigeladener könne deswegen eine Entschädigung nur dann beanspruchen, wenn er im Einzelfall tatsächlich nachweisbar einen Nachteil erlitten habe. Diesen Nachweis habe die Klägerin nicht geführt. Deshalb könne offenbleiben, ob die weiteren Voraussetzungen für den geltend gemachten Entschädigungsanspruch erfüllt seien.

Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie rügt eine Verletzung des § 198 GVG und des § 75 Abs 1 SGG. Die Auffassung des Entschädigungsgerichts, dass einfach Beigeladene nicht vom Justizgewährleistungsanspruch und damit auch nicht vom Entschädigungsanspruch erfasst seien, sei unzutreffend. Das Entschädigungsgericht hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass die gesetzliche Vermutung des von ihr geltend gemachten immateriellen Nachteils widerlegt sei. Der Entschädigungsbetrag iH von 8400 Euro errechne sich aus den Monaten gerichtlicher Inaktivität in beiden verbundenen Ausgangsverfahren (2 x 42 Verzögerungsmonate x 100 Euro).

Darüber hinaus rügt die Klägerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Das Entschädigungsgericht habe eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen, indem es auf den richterlichen Hinweis in der mündlichen Verhandlung nicht den sinngemäß beantragten Schriftsatznachlass gewährt und auch im Übrigen ihren Vortrag nicht hinreichend berücksichtigt habe.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 14. November 2018 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, der Klägerin wegen der unangemessenen Dauer der vor dem Sozialgericht Magdeburg zunächst unter den Aktenzeichen S 22 SO 29/11 und S 22 SO 31/11 und nach ihrer Verbindung zuletzt unter dem Aktenzeichen S 19 SO 29/11 geführten Klageverfahren eine Entschädigung in Höhe von 8400 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 31. März 2017 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Entschädigungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zwar ist die Entschädigungsklage zulässig. Jedoch kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Entschädigungsgerichts nicht abschließend entscheiden, ob und - falls ja - in welcher Höhe der Klägerin ein Entschädigungsanspruch zusteht.

Der Senat hat das Begehren der Klägerin sowohl in prozessualer als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht an § 202 Satz 2 SGG iVm §§ 198 ff GVG zu messen, weil das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) anwendbar ist. Art23 Satz 1 Alt 1 ÜGG eröffnet Entschädigungsansprüche auch für solche Verfahren, die - wie das Ausgangsverfahren vor dem SG - bei Inkrafttreten des ÜGG am 3.12.2011 bereits anhängig waren (vgl Senatsurteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 12).

A. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der von der Klägerin ausschließlich geltend gemachte Anspruch auf Geldentschädigung nebst Zinsen wegen überlanger Dauer des vor dem SG Magdeburg zuletzt unter dem Az S 19 SO 29/11 geführten Klageverfahrens. Die von der Klägerin im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis (vgl § 123 SGG) vorgenommene Begrenzung des Streitgegenstands auf einen Anspruch auf Geldentschädigung wegen immaterieller Nachteile ist prozessrechtlich zulässig (stRspr; zB Senatsurteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 11).

B. Die Entschädigungsklage der Klägerin ist zulässig.

1. Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr; zB Senatsurteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 14 mwN).

2. Die Wartefrist des § 198 Abs 5 Satz 1 GVG, wonach eine Entschädigungsklage frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann, ist gewahrt. Die Klägerin hat im Ausgangsverfahren am 17.8.2016 eine überlange Verfahrensdauer gerügt. Sodann hat sie am 20.3.2017 - nach Ablauf von sechs Monaten - Entschädigungsklage erhoben.

3. Auch die Klagefrist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG hat die Klägerin eingehalten. Danach muss die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Das Urteil des SG wurde der Klägerin als Beigeladene des Ausgangsverfahrens am 13.2.2017 zugestellt. Die Entschädigungsklage wurde von der Klägerin am 20.3.2017 beim LSG als Entschädigungsgericht erhoben.

C. Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Entschädigungsgerichts jedoch nicht abschließend entscheiden, ob und - falls ja - in welchem Umfang die Entschädigungsklage der Klägerin begründet ist.

Nach § 202 Satz 2 SGG iVm § 198 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 3 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wenn er zuvor bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Dem Entschädigungsanspruch der Klägerin steht weder entgegen, dass sie nicht unverzüglich iS von Art23 Satz 2 ÜGG die Verzögerung des Verfahrens gerügt hat (dazu unter 1.) noch liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Verzögerungsrüge unwirksam sein könnte (dazu unter 2.). Das zuletzt nach der Verbindung der beiden Klageverfahren unter dem Az S 19 SO 29/11 geführte Ausgangsverfahren ist als ein Gerichtsverfahren iS des § 198 Abs 6 Nr 1 GVG zu betrachten. Es kann für die nach der Verbindung der zwei Klageverfahren dort einfach beigeladene Klägerin nicht zwei Entschädigungsansprüche, sondern nur einen einzigen - einheitlichen - Entschädigungsanspruch begründen (dazu unter 3.). Darüber hinaus kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Entschädigungsgerichts nicht abschließend entscheiden, ob und - falls ja - in welchem Umfang das Ausgangsverfahren für die Klägerin unangemessen lange gedauert hat (dazu unter 4.). Ebenso wenig kann der Senat beurteilen, ob der Klägerin aufgrund einer Überlänge des Ausgangsverfahrens ein zu entschädigender immaterieller Nachteil entstanden ist. Die Vermutung eines solchen Nachteils kann nicht bloß aufgrund der Stellung der Klägerin im Ausgangsverfahren als einfach Beigeladene als widerlegt betrachtet werden (dazu unter 5.). Aus den vorgenannten Gründen ist die Sache an das Entschädigungsgericht zurückzuverweisen (dazu unter 6.). Auf die von der Klägerin erhobenen Verfahrensrügen kommt es daher im Revisionsverfahren nicht mehr an (dazu unter 7.).

1. Einem Entschädigungsanspruch der Klägerin steht nicht schon entgegen, dass sie nicht unverzüglich iS de...

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