Urteil Nr. B 12 R 10/18 R des Bundessozialgericht, 2019-06-04

Judgment Date04 Junio 2019
ECLIDE:BSG:2019:040619UB12R1018R0
Judgement NumberB 12 R 10/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit - tageweise ausgeübte Tätigkeit im ärztlichen Bereitschaftsdienst einer Privatnervenklinik - Abgrenzung - abhängige Beschäftigung - selbstständige Tätigkeit - Verfassungsmäßigkeit
Leitsätze

1. Entsprechend dem Versorgungsauftrag in der gesetzlichen Krankenversicherung haben die regulatorischen Rahmenbedingungen der gewerberechtlichen Konzession einer Privatnervenklinik in der Regel die Eingliederung ärztlichen Klinikpersonals in die Organisations- und Weisungsstruktur des Krankenhauses zur Folge.

2. Für die nur ausnahmsweise in Betracht kommende selbstständige Tätigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn müssen gewichtige Indizien bestehen.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2017 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 5000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 1. nach dem Recht der Arbeitsförderung wegen tageweise ausgeübter Tätigkeiten im ärztlichen Bereitschaftsdienst im Zeitraum 15.3.2010 bis 30.10.2013.

Die klagende GmbH ist die Trägerin einer privaten Klinik für Psychotherapie, die Privatpatienten und auf entsprechende Einzelgenehmigung bis zu 40 % ihrer Patienten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) behandelt (im Folgenden: klagende Klinik). Die Konzession als private Nervenklinik wurde mit der Auflage erteilt, dass der Bereitschaftsdienst täglich 24 Stunden durch einen diensthabenden Psychologen durchzuführen und die ausreichende medizinische Betreuung durch eine ständige ärztliche Rufbereitschaft eines Arztes für Psychiatrie sicherzustellen ist. Im Tagdienst wirken zwei Ärzte mit rund 30 Psychologen und psychologischen Psychotherapeuten zusammen.

Der im August 1948 geborene Beigeladene zu 1. ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Bis zum 30.6.2011 nahm er in niedergelassener Praxis an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Seit 15.10.2010 übte er zudem eine Beschäftigung als Bereitschaftsarzt in einer von der zu 4. beigeladenen DRV Westfalen getragenen orthopädischen Reha-Klinik aus.

Die klagende Klinik und der beigeladene Arzt schlossen im August 2009 einen Vertrag über die freie Mitarbeit als "Bereitschaftsarzt" mit folgendem Inhalt:

§ 1 Vertragsgegenstand
Der Auftragnehmer wird für den Auftraggeber als freier Mitarbeiter tätig. Die Tätigkeit besteht in der Ableistung von Bereitschaftsdiensten. Die Dienste finden statt
- in der Woche (Montag bis Freitag) von 17:00 bis 8:00 Uhr am folgenden Tag
- am Wochenende von 8:00 bis 8:00 Uhr oder 17:00 bis 17:00 Uhr jeweils am folgenden Tag.
Die Konkretisierung der Aufgaben während der Dienste ergibt sich aus der Aufgabenbeschreibung für Bereitschaftsdienste, die dem Auftragnehmer ausgehändigt worden sind. Die Dienste sind vom Auftragnehmer persönlich zu erbringen. Bei ausnahmsweiser Vertretung ist dies vorab mit dem Auftraggeber abzustimmen. Der Auftragnehmer unterliegt bei seiner Tätigkeit keinen Weisungen.

§ 2 Qualifikation des Auftragnehmers
[…]

§ 3 Vertragsbeginn und -beendigung.
Das freie Mitarbeiterverhältnis beginnt am 1.9.2009 und endet am 31.8.2011. Das Recht zur Kündigung des Vertragsverhältnisses bleibt unberührt. Das Vertragsverhältnis kann mit einer Frist von einem Monat zum Ende eines jeden Monats gekündigt werden. Eine Kündigung aus wichtigem Grund ist jederzeit möglich.

§ 4 Ablehnungsrecht des Auftragnehmers
Die Auftragserteilung erfolgt für jeden Monat im Voraus durch Vereinbarung des Dienstplanes. Der Auftragnehmer hat bei Dienstplanerstellung das Recht, Dienste ohne Angabe von Gründen abzulehnen. Nach erfolgter Vereinbarung des Dienstplanes ist dieser jedoch für die Vertragsparteien verbindlich. Anpassungen des vereinbarten Dienstplanes im laufenden Monat aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen sind einvernehmlich möglich.

§ 5 Verhältnis Auftragnehmer zu Dritten
Der Auftragnehmer hat das Recht, auch für dritte Auftraggeber tätig zu sein. Einer vorherigen Zustimmung des Auftraggebers bedarf es hierfür nicht.

§ 6 Tätigkeitsort
Die Bereitschaftsdienste sind in den Räumlichkeiten des Auftraggebers zu erledigen.

§ 7 Vergütung
Der Auftragnehmer erhält für seine nach § 1 des Vertrages erbrachte Tätigkeit für einen Dienst in der Woche in Höhe von 185 Euro und für einen Wochenenddienst ein Honorar in Höhe von 370 Euro. Das Honorar versteht sich ohne Mehrwertsteuer. Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass der Auftragnehmer von der Mehrwertsteuer befreit ist. Die Versteuerung des Honorars hat der Auftragnehmer selbst vorzunehmen.
Der Auftragnehmer hat keinen Anspruch auf Honorar im Krankheitsfall oder bei Urlaub. Findet ein Dienst nicht statt, hat der Auftragnehmer keinen Anspruch auf Honorar.
Das Honorar ist fällig nach vertragsgemäßer Erbringung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes 14 Tage nach Rechnungserhalt.
Der Auftragnehmer verpflichtet sich, Vergütungsüberzahlungen ohne Rücksicht auf eine noch zu erfahrende Bereicherung zurückzuzahlen.

§ 8 Kosten und Aufwendungen des Auftragnehmers
Soweit Kosten für Bereitschaftsdienst anfallen, sind diese vom Auftragnehmer zu tragen. Davon ausgenommen sind Verbrauchsmaterialien in geringem Umfang und von geringen Kosten wie beispielsweise Verbände, Pflaster, Arzneien , die bei Leistung der Dienste benötigt werden.

§ 9 Verschwiegenheitsklausel
[…]

§ 10 Besondere Vereinbarungen mit dem Auftragnehmer
Der Auftragnehmer verpflichtet sich, dem Auftraggeber Kenntnis von sämtlichen anderweitigen Beschäftigungen und Aufträgen zu verschaffen und ihm hierüber im Falle der Durchführung eines Prüfverfahrens durch die Träger der Kranken- und Rentenversicherung Unterlagen und Belege zur Verfügung zu stellen. Änderungen in den Verhältnissen des Auftragnehmers sind dem Auftraggeber unverzüglich und unaufgefordert schriftlich anzuzeigen. Verstößt der Auftragnehmer gegen seine Verpflichtungen aus Absatz 1 kann der Auftraggeber die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung rückerstattet und künftig erstattet verlangen, falls ein Träger der Kranken- oder Rentenversicherung nach der Vermutungswirkung des § 7 Absatz 4 SGB IV ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis feststellt.

§ 11 Weitere Bestimmungen
[…]

Diese schriftliche Vereinbarung wurde einmal verlängert (Ergänzungsvereinbarung vom 15.7.2011) und sodann (ab 1.9.2013) von den Beteiligten einvernehmlich fortgeführt. Zusatzzeiten wurden gesondert vergütet.

Der beigeladene Arzt leistete ab dem 15.3.2010 in den Räumlichkeiten der klagenden Klinik nächtliche Bereitschafts- sowie Wochenenddienste, wobei sie sich jeweils im Voraus auf einen verbindlichen Dienstplan verständigten. Die Einzeleinsätze rechnete der beigeladene Arzt monatlich ab; es ergaben sich monatliche Gesamthonorare bis zu 1613,58 Euro.

Am 25.9.2009 beantragte der beigeladene Arzt bei der beklagten DRV Bund die Feststellung des Nichtbestehens von Versicherungspflicht in der zwischen ihm und der klagenden Klinik bestehenden Auftragsbeziehung. Die Beklagte stellte nach Anhörung gegenüber der klagenden Klinik und dem beigeladenen Arzt fest, dass die Tätigkeit als Bereitschaftsarzt seit dem 1.9.2009 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde (Bescheide vom 22.1.2010). Die Versicherungspflicht dem Grund nach beginne mit dem Tag der Aufnahme der Beschäftigung. Auf den Widerspruch der klagenden Klinik änderte die Beklagte die Entscheidung dahingehend ab, dass für den beigeladenen Arzt in der bei der Klägerin ausgeübten Beschäftigung als Bereitschaftsarzt ab dem 1.9.2009 Versicherungspflicht in der GKV, der sozialen Pflegeversicherung (sPV) sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe (Bescheide vom 7.3.2011) und wies den Widerspruch der Klägerin im Übrigen zurück (Widerspruchsbescheid vom 26.5.2011). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18.12.2012).

Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte ihre Bescheide gemäß § 44 SGB X hinsichtlich der Feststellung von Versicherungspflicht in der GKV und sPV zurückgenommen (Bescheid vom 29.7.2014) und festgestellt, dass ab dem 1.11.2013 auch keine Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung mehr bestehe (Bescheide vom 2.11.2016). In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 15.2.2017 hat die Beklagte die Bescheide vom 22.1.2010 in der Fassung des Bescheides vom 7.3.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.5.2011 sowie die Bescheide vom 29.7.2014 und 2.11.2016 abermals geändert und den Verfügungssatz wie folgt neu gefasst:

"Es wird festgestellt, dass der Beigeladene zu 1) in seiner Tätigkeit als Bereitschaftsarzt bei der Klägerin am 15.3., 31.3., 5.4., 16.4., 3.5., 9.5., 17.6., 2.7., 4.7, 7.7., 31.7., 26.7., 1.9., 29.9., 1.10., 10.10., 18.10., 5.11., 12.11., 27.11., 3.12., 5.12.2010, 16.1., 17.1., 24.1., 31.1., 19.2., 21.2., 28.2., 8.3., 16.3., 21.3., 28.3., 9.4., 11.4., 24.4., 7.5., 6.6., 7.7., 17.7., 21.7., 1.9., 29.9., 10.11., 20.11., 27.11., 12.12., 18.12., 29.12.2011, 3.1., 8.1., 24.1., 5.2., 21.2., 29.2., 22.3., 24.3., 29.3., 8.4., 12.4., 19.4., 28.4., 4.5., 6.5., 17.5., 19.5., 24.5., 10.6., 21.6., 13.7., 27.7., 31.7., 2.8., 4.8., 10.8., 19.8., 30.8., 11.9., 15.9., 18.9., 20.9., 24.9., 11.10., 14.10., 18.10., 27.10., 1.11., 3.11., 8.11., 12.11., 22.11., 17.12., 23.12., 24.12., 26.12.2012, 20.1., 24.1, 27.1., 31.1., 23.2., 28.2., 15.3., 31.3., 5.4., 19.4., 22.4., 25.5., 30.5., 6.6., 9.6., 16.6., 27.6., 4.7., 11.7., 2.8., 9.8., 11.8., 16.8., 14.9., 29.10., 30.10.2013 der Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlegen hat."

Das LSG hat die Berufung zurück- und die Klage gegen den Bescheid vom 15.2.2017 abgewiesen (Urteil vom 15.3.2017). Die Beklagte habe ihrer Feststellung zutreffend in der nunmehr gültigen Fassung des angefochtenen Bescheides die Einzelaufträge zugrunde gelegt, da weder eine Rufbereitschaft noch ein bestimmtes...

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