Urteil Nr. B 14 AS 49/18 R des Bundessozialgericht, 2019-08-29

Judgment Date29 Agosto 2019
ECLIDE:BSG:2019:290819UB14AS4918R0
Judgement NumberB 14 AS 49/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Oktober 2018 geändert.

Die Klage gegen den Bescheid vom 14. April 2016 wird als unzulässig abgewiesen.

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger neun Zehntel der Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Umstritten ist ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II wegen sozialwidrigen Verhaltens.

Der Kläger nahm seit Oktober 2014 an einer außerbetrieblichen Berufsausbildung teil, die nach Fehlzeiten im Juni 2015 vom Ausbildungsträger fristlos gekündigt wurde. Das beklagte Jobcenter bewilligte ihm ab Juli 2015 Alg II, minderte es unter Verweis auf die Fehlzeiten für drei Monate um 30 % wegen pflichtwidrigen Verhaltens (§ 31 Abs 2 Nr 4 SGB II) und machte sodann nach Anhörung Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten (§ 34 SGB II) geltend. Dazu stellte es zunächst fest, der Kläger habe die Beendigung des Ausbildungsverhältnisses verschuldet und hierdurch seine Hilfebedürftigkeit herbeigeführt. Er sei daher "zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen" verpflichtet; Umfang und Höhe würden in einem gesonderten Bescheid mitgeteilt (Bescheid vom 5.1.2016 - im Folgenden: Grundlagenbescheid - sowie Widerspruchsbescheid vom 7.4.2016). Anschließend setzte es für Juli bis Dezember 2015 einen Ersatzanspruch von 2968,51 Euro fest und kündigte eine Aufrechnung gegen laufende Leistungen ab August 2016 in Höhe von 121,20 Euro monatlich an (Leistungsbescheid vom 14.4.2016); das Widerspruchsverfahren hiergegen ruht.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.5.2017). Das LSG hat das Urteil des SG geändert und den Grundlagenbescheid sowie den (zwischenzeitlich bekannt gewordenen) Leistungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 11.10.2018): Der Leistungsbescheid sei Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Eine Entscheidung nur dem Grunde nach sei gesetzlich nicht vorgesehen. Der Leistungsbescheid sei nicht hinreichend bestimmt und zudem materiell rechtswidrig. Ein sozialwidriges Verhalten liege nicht vor.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Sachentscheidung über den Leistungsbescheid als verfahrensfehlerhaft und macht materiell eine Verletzung von § 34 SGB II geltend.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Oktober 2018 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 23. Mai 2017 zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist nur zum Teil begründet. Zutreffend beanstandet er zwar die Einbeziehung des Leistungsbescheids in das Berufungsverfahren als verfahrensfehlerhaft (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Zu Recht ist er auch der Auffassung, dass § 34 SGB II zum Erlass von Grundlagenbescheiden ermächtigt. Jedoch liegen die Voraussetzungen dafür hier nicht vor (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Grundlagenbescheid vom 5.1.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.4.2016 sowie - aufgrund der Sachentscheidung des LSG - der Leistungsbescheid vom 14.4.2016, wodurch der Beklagte das zum Abbruch der außerbetrieblichen Berufsausbildung führende Verhalten als sozialwidrig qualifiziert (dazu unter 4. d) und für Juli bis Dezember 2015 deswegen einen Ersatzanspruch in Höhe von 2968,51 Euro festgesetzt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger statthaft mit reinen Anfechtungsklagen (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl letztens BSG vom 8.2.2017 - B 14 AS 3/16 R - SozR 4-4200 § 34 Nr 3 RdNr 10).

2. Zu Unrecht hat das LSG den Leistungsbescheid nach § 96 Abs 1 SGG in seine Sachentscheidung einbezogen; das hat der Senat als Sachentscheidungshindernis von Amts wegen zu beachten.

a) Nach § 96 Abs 1 SGG (idF des SGG / ArbGGÄndG vom 26.3.2008, BGBl I 444) wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung (nur) Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Dies setzt voraus, dass der Regelungsgegenstand des weiteren Verwaltungsakts mit dem des früheren identisch ist (stRspr; vgl letztens etwa BSG vom 14.3.2018 - B 12 KR 12/17 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 34 RdNr 17). Dies ist nicht der Fall, wenn ein anderer Streitstoff oder veränderte Tatsachen umfasst sind (Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96 RdNr 4a).

b) So liegt es hier. Grundlagen- und Leistungsbescheid zielen nach der Regelungskonzeption des Beklagten auf die Setzung jeweils unterschiedlicher Rechtsfolgen und betreffen deshalb verschiedene Regelungsgegenstände. Während der Grundlagenbescheid isoliert auf die verbindliche Qualifizierung des zur Auflösung des Ausbildungsverhältnisses führenden Verhaltens des Klägers als sozialwidrig gerichtet ist (dazu unten 4. d), sollen durch nachfolgend ergehende Leistungsbescheide aufbauend darauf Ersatzpflichten für einzelne Zeitabschnitte begründet werden, ohne nochmals über die Sozialwidrigkeit des zugrunde liegenden Verhaltens entscheiden zu müssen.

c) Nicht ausschlaggebend dafür ist, dass das Zusammenspiel mit dem Leistungsbescheid im Wortlaut des Grundlagenbescheids nur unzureichend zum Ausdruck kommt (anders insoweit bei der Parallelentscheidung BSG vom 29.8.2018 - B 14 AS 50/18 R - RdNr 8). Über den Wortlaut hinaus kommt es für die Auslegung eines Verwaltungsakts auf seinen objektiven Sinngehalt an, also darauf, wie der Empfänger ihn bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls ua einschließlich früher zwischen den Beteiligten ergangener Verwaltungsakte objektiv verstehen konnte und musste (stRspr; vgl letztens nur BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 21 ff mwN). Das ist auch vom Revisionsgericht bei der Prüfung der Sachentscheidungsvoraussetzungen zu beachten (vgl nur BSG vom 29.6.1995 - 11 RAr 57/94 - BSGE 76, 178, 180 = SozR 3-4100 § 58 Nr 7 S 30; zur Auslegung von Verwaltungsakten durch das BSG im Übrigen vgl letztens nur BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 24 mwN).

d) Maßgeblich für die Auslegung ist deshalb neben der Begründung des Leistungsbescheids auch das bei objektiver Betrachtungsweise intendierte Zusammenwirken von Grundlagen- und Leistungsbescheid. Das steht der Annahme entgegen, dass durch den Leistungsbescheid weitere verbindliche Feststellungen zur Sozialwidrigkeit des streitbefangenen Verhaltens getroffen werden sollten. Dadurch würde der Grundlagenbescheid im Ergebnis sukzessive funktionslos, weil er bei diesem Verständnis durch jeden Leistungsbescheid für den jeweiligen Zeitraum teilweise ersetzt (§§ 86 oder 96 SGG) und mithin schrittweise erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X) werden würde. Unter Berücksichtigung dessen können die im Leistungsbescheid nochmals getroffenen Ausführungen zur Sozialwidrigkeit des streitbefangenen Verhaltens nur als Begründungselement für die weiteren Feststellungen zur Ersatzpflicht des Klägers im Zeitraum von Juli bis Dezember 2015 angesehen werden, nicht aber als Ausweis einer erneut mit Rechtsbindungswillen getroffenen Entscheidung über das Merkmal der Sozialwidrigkeit.

e) Das ist nicht anders zu sehen, weil eine Feststellung zum Grund eines Ersatzanspruchs nach § 34 Abs 1 SGB II als unzulässige Elementenfeststellung ausgeschlossen ist und dem Leistungsbescheid deshalb eine erneuernde Feststellungswirkung derart zukommt, dass der Grundlagenbescheid durch ihn nach § 96 Abs 1 SGG ersetzt wird (hierzu letztens BSG vom 14.3.2018 - B 12 KR 12/17 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 34 RdNr 15 mwN); so liegt es - anders als vom LSG zugrunde gelegt - nicht (dazu sogleich 4.).

3. Rechtsgrundlage des Grundlagenbescheids ist § 34 Abs 1 SGB II, hier in der bis zum 31.7.2016 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850); die Änderungen nach seinem Erlass durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26.7.2016 (BGBl I 1824) finden keine Anwendung (BSG vom 8.2.2017 - B 14 AS 3/16 R - SozR 4-4200 § 34 Nr 3 RdNr 14 f). Danach gilt: "Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung. Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde."

Diese Voraussetzungen für den Erlass des Grundlagenbescheids liegen hier...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT