Urteil Nr. B 14 AS 43/18 R des Bundessozialgericht, 2019-08-29

Judgment Date29 Agosto 2019
ECLIDE:BSG:2019:290819UB14AS4318R0
Judgement NumberB 14 AS 43/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Einpersonenhaushalt in Nordrhein-Westfalen - Angemessenheitsprüfung - Wohnflächengrenze - erhöhter Raumbedarf wegen Ausübung des Umgangsrechts mit getrennt lebenden Kind - sozialgerichtliches Verfahren - Anforderungen an einen wirksamen Teilvergleich
Leitsätze

Bei Ausübung des Umgangsrechts ist der Bedarf für die Unterkunft weder regelhaft zu erhöhen noch kann bei einem Umgang im üblichen Umfang davon ausgegangen werden, dass kein weiterer Bedarf besteht.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. September 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Umstritten ist die Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft von Juli bis Oktober 2015 im Hinblick auf die Ausübung eines Umgangsrechts.

Der Kläger hat eine im Juli 2011 geborene Tochter. Von der Kindesmutter lebt er getrennt. Die Tochter hat ihren Lebensmittelpunkt bei der Mutter. Der Kläger betreute seine Tochter in den streitgegenständlichen Monaten im Rahmen seines Umgangs im Wesentlichen an jedem zweiten Wochenende und unregelmäßig in den Ferien und an Feiertagen. Der Kläger bewohnt eine 70 qm große Wohnung in D, für die monatlich zu zahlen waren 320 Euro Nettokaltmiete, 105 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 75 Euro Heizkostenvorauszahlung, insgesamt 500 Euro. Das beklagte Jobcenter wies den Kläger auf die Unangemessenheit seiner Kosten hin, angemessen seien 404 Euro (6,58 Euro x 50 qm als Bruttokaltmiete zuzüglich 75 Euro Heizkosten, Schreiben vom 24.2.2014). Mit Bescheiden vom 20.10.2014 und 1.12.2014 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum November 2014 bis Oktober 2015 Alg II unter Berücksichtigung eines Bedarfs für Unterkunft und Heizung iHv (nur) noch 404 Euro.

Mit Schreiben vom 22.7.2015 beantragte der Kläger die Übernahme der tatsächlichen Unterkunfts- und Heizkosten. Der Beklagte habe beim Wohnflächenbedarf zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass er durch die Ausübung des Umgangs zusätzlichen Wohnraum für seine Tochter vorhalten müsse. Der Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 27.10.2015, Widerspruchsbescheid vom 10.3.2016). Zusätzlicher Wohnbedarf für den Umgang mit einem Kind könne nur berücksichtigt werden, wenn es sich zeitlich mindestens zur Hälfte in der Wohnung aufhalte.

Mit seiner hiergegen erhobenen Klage hat sich der Kläger auf die Monate Juli bis Oktober 2015 beschränkt. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24.3.2017). Auf Vorschlag des LSG haben die Beteiligten im schriftlichen Verfahren einen "Teilvergleich" über den streitgegenständlichen Zeitraum geschlossen. Danach bestehe Einigkeit, dass für die Ermittlung der abstrakt angemessenen Wohnraumkosten die von dem Beklagten verwandten Werte maßgeblich seien (Wohnungen bis 50 qm: Bruttokaltmiete 6,58 Euro/qm; Wohnungen bis 65 qm: Bruttokaltmiete 6,21 Euro/qm). Außerdem bestehe Einigkeit, dass die Heizkosten in tatsächlicher Höhe zu übernehmen und von dem Beklagten erstattet worden seien. Das LSG hat die Berufung des Klägers im Anschluss zurückgewiesen (Urteil vom 6.9.2018). Nicht Streitgegenstand seien die Höhe des angemessenen Bruttokalt-Quadratmeterpreises sowie die Heizkosten, weil die Beteiligten sich insoweit zulässig verglichen hätten. Der Kläger habe als umgangsberechtigter Elternteil keinen Anspruch auf Anerkennung höherer Unterkunftsbedarfe, weil nach der konkret getroffenen Umgangsregelung für die damals vierjährige Tochter kein zusätzlicher Wohnraum benötigt werde.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 22 Abs 1 SGB II iVm Art 6 Abs 1, 2 GG. Zum grundgesetzlich geschützten Wesen des Umgangsrechts gehöre, dass das Kind in der Wohnung des umgangsberechtigten Elternteils über einen eigenen Bereich verfüge, damit es sich dort nicht lediglich zu Besuch fühle.

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. September 2018 und des Sozialgerichts Duisburg vom 24. März 2017 sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. März 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, seinen Bescheid vom 1. Dezember 2014 zu ändern und ihm für Juli bis Oktober 2015 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 96 Euro monatlich zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht darüber entscheiden, ob bei dem Kläger ein höherer Bedarf für die Unterkunft anzuerkennen ist.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der auf den Überprüfungsantrag des Klägers vom 22.7.2015 ergangene Bescheid des Beklagten vom 27.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.3.2016, durch den der Antrag des Klägers auf höhere Leistungen für die Unterkunft abgelehnt worden ist, als ihm für die Monate Juli bis Oktober 2015 zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid vom 1.12.2014, der den Bescheid vom 20.10.2014 (nicht - wie das LSG irrtümlich angenommen hat - vom 14.10.2014) ua für diese Monate ersetzte, bewilligt worden waren.

Der Kläger hat sein Begehren zulässig auf Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II (zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung nur BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10 mwN) und auf die Monate Juli bis Oktober 2015 beschränkt.

Soweit das LSG zudem angenommen hat, die Höhe des angemessenen Bruttokalt-Quadratmeterpreises sowie die Heizkosten seien nicht Streitgegenstand, ist dem nicht zu folgen. Eine Beschränkung des Streitgegenstands ist nur im Hinblick auf Leistungen der Unterkunft und Heizung möglich, weil es sich insoweit um eine abtrennbare Verfügung handelt. Das bedeutet zugleich, dass eine Aufspaltung des Streitgegenstands in Unterkunftskosten einer- und Heizkosten andererseits rechtlich nicht möglich ist (stRspr seit BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 18 ff). Erst recht handelt es sich bei einzelnen Berechnungselementen wie der abstrakt angemessenen Bruttokaltmiete pro Quadratmeter Wohnfläche nicht um einen eigenständigen Streitgegenstand.

Aus der vom LSG in Bezug genommenen Rechtsprechung zur prozessualen Zulässigkeit eines (teilweisen) Vergleichs über einzelne konkret bezifferte Berechnungselemente des Leistungsanspruchs (vgl BSG vom 28.11.2002 - B 7 AL 36/01 R - RdNr 15; BSG vom 20.9.2012 - B 8 SO 4/11 R - BSGE 112, 54 = SozR 4-3500 § 28 Nr 8, RdNr 13; BSG vom 24.3.2015 - B 8 SO 5/14 R - SozR 4-3500 § 28 Nr 11 RdNr 10; BSG vom 5.5.2015 - B 10 ÜG 5/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 12 RdNr 23; BSG vom 30.6.2016 - B 8 SO 3/15 R - BSGE 121, 283 = SozR 4-3500 § 82 Nr 11, RdNr 12) folgt nichts anderes. Die hier von den Beteiligten getroffene Vereinbarung hat den geltend gemachten Anspruch nicht iS des § 101 Abs 1 SGG teilweise erledigt.

Es kann dahinstehen, ob ein gerichtlicher Vergleich über Teilelemente des Anspruchs im Grundsatz zulässig ist. Anders als das LSG annimmt, folgt die Zulässigkeit des Teilvergleichs jedenfalls nicht daraus, dass die Beteiligten auch über das "Gesamtprodukt" einen Vergleich iS des § 101 Abs 1 SGG schließen könnten. Die Befugnis der Beteiligten, über den Streitgegenstand ganz oder teilweise zu verfügen und dadurch den Rechtsstreit im Vergleichswege zu beenden, ist Ausdruck der auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Dispositionsmaxime. Daraus folgt nicht zugleich, die Beteiligten könnten sich über einzelne Tatbestandsmerkmale oder eine zum Streitgegenstand gehörende Rechtsfrage isoliert vergleichen, im Übrigen aber - unabhängig von der weiteren Erheblichkeit - eine Entscheidung über den Streitgegenstand dem Gericht überlassen (ablehnend insoweit BSG vom 23.8.2011 - B 14 AS 165/10 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 43 RdNr 16; BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 131/11 R - RdNr 8; BSG vom 23.5.2012 - B 14 AS 148/11 R - SozR 4-4200 § 11a Nr 1 RdNr 14; Kothe in Redeker/von Oertzen, VwGO, 16. Aufl 2014, § 106 RdNr 4; Roller in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 101 RdNr 15; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl 2019, § 106 RdNr 15; Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 101 RdNr 3).

Die Beteiligten können den Rechtsstreit insbesondere nicht im...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT