Urteil Nr. B 2 U 27/17 R des Bundessozialgericht, 2019-05-07

Judgment Date07 Mayo 2019
ECLIDE:BSG:2019:070519UB2U2717R0
Judgement NumberB 2 U 27/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Halbwaisenrente - Zweitausbildung - konsekutive Schulausbildung - Auslegung des § 67 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe a SGB VII - eigenständige Gesetzesausgestaltung und Gesetzesregelung - Unterhaltsersatzfunktion und Verwaltungsvereinfachung - Abgrenzung zur Scheinausbildung - Gesetzesvorbehalt gem § 31 SGB I - Schulausbildung im Anschluss an abgeschlossene Berufsausbildung
Leitsätze

Der Anspruch auf (Halb-)Waisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht auf Erstausbildungen begrenzt.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Juni 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Halbwaisenrente der Klägerin bis zum 30. Juni 2014 befristet wird.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin nach Abschluss einer ersten Berufsausbildung Halbwaisenrente für eine nachfolgende Schulausbildung gewähren muss.

Die 1994 geborene Klägerin ist Tochter des Versicherten, der am 22.12.1998 infolge eines Arbeitsunfalls verstorben ist. Am 1.8.2010 nahm sie eine Berufsausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten auf. Hierfür bewilligte ihr die Beklagte Halbwaisenrente auch über das 18. Lebensjahr hinaus, spätestens bis zum 31.7.2013 (Bescheid vom 3.7.2012). Am 19.6.2013 schloss sie die Berufsausbildung erfolgreich ab. Die Beklagte entzog mit Blick darauf die Halbwaisenrente zum 30.6.2013 (Bescheid vom 24.4.2013).

Die Klägerin besuchte vom 19.8.2013 bis zum 17.6.2014 erfolgreich die Fachoberschule und beantragte, ihr weiterhin ab dem 1.7.2013 Halbwaisenrente zu bewilligen. Dies lehnte die Beklagte ab, weil sich die Klägerin selbst unterhalten könne und Eltern für Zweitausbildungen nicht (mehr) unterhaltspflichtig seien (Bescheid vom 17.2.2014 und Widerspruchsbescheid vom 16.6.2014).

Das SG hat diese Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab dem 1.7.2013 weiterhin Halbwaisenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Gerichtsbescheid vom 18.7.2016), weil der Abschluss einer Berufsausbildung weder nach dem Wortlaut des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII noch nach dem Willen des Gesetzgebers den sozialrechtlich eigenständigen Waisenrentenanspruch ausschließe. Die Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 12.6.2017): Die Klägerin habe als Hinterbliebene des Versicherten (§ 63 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB VII) ab dem 1.7.2013 befristet bis zum 30.6.2014 Anspruch auf Halbwaisenrente, weil sie sich vor Vollendung des 27. Lebensjahres vom 19.8.2013 bis zum 17.6.2014 als Fachoberschülerin in Schulausbildung (§ 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII) mit einem tatsächlichen zeitlichen Aufwand von wöchentlich mehr als 20 Stunden befunden habe. Der Wortlaut des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII setze keinen (fiktiven) zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch (§§ 1601 ff BGB) gegen den verstorbenen Versicherten voraus, der grundsätzlich entfalle, wenn die Waise eine Berufsausbildung abgeschlossen habe. Zudem habe der 8. Senat des BSG (Urteil vom 27.1.1976 - 8 RU 2/75 - SozR 2200 § 583 Nr 1) bereits zu der Vorgängernorm des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII (§ 595 Abs 2 RVO) entschieden, dass eine Begrenzung auf das erste Ausbildungsverhältnis nicht in Betracht komme. Wie aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 13/2204 S 92) hervorgehe, habe § 67 SGB VII daran nichts ändern sollen. Die Vorschriften über die Waisenrente (§§ 67 ff SGB VII) nähmen nicht auf familienrechtliche Unterhaltsregelungen Bezug, während der Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten an frühere Ehegatten einen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch ausdrücklich voraussetze (§ 66 Abs 1 SGB VII). Deshalb sei bei der Waisenrente nicht auf das bürgerlich-rechtliche Unterhaltsrecht zurückzugreifen. Soweit das LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11.3.2010 - L 3 U 208/08 - Juris) unter Berufung auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.6.2003 - B 4 RA 37/02 R - SozR 4-2600 § 48 Nr 2 - "Promotionsstudent") zur Waisenrente in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 48 SGB VI) anders entschieden habe, sei dem nicht zu folgen. Die Klägerin habe auch vom 1.7. bis zum 18.8.2013 Anspruch auf Waisenrente, weil sie sich in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (Berufs- und Schulausbildung) von weniger als vier Kalendermonaten befunden habe.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII. Gegen den Anspruch auf Waisenrente für Zweitausbildungen spreche bereits, dass diese Vorschrift die Begriffe "Schulausbildung oder Berufsausbildung" im Singular und nicht im Plural verwende. Anhand der unergiebigen "amtlichen Begründung" könne nicht entschieden werden, ob der Waisenrentenanspruch nur Erstausbildungen erfasse. Vielmehr gebiete die Einheit der Rechtsordnung, das zivile Unterhaltsrecht als Orientierungs- bzw Auslegungshilfe ergänzend heranzuziehen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 18.6.1975 - 1 BvL 4/74 - BVerfGE 40, 121 = SozR 2400 § 44 Nr 1) deckten Waisenrenten nach ihrem Sinn und Zweck lediglich den Bedarf, der durch den Ausfall der elterlichen Unterhaltsleistungen typischerweise entstehe. Wie § 1610 BGB zeige, ende der Unterhaltsbedarf eines Kindes, sobald es nach Abschluss einer Ausbildung in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten. Auch das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) fördere grundsätzlich keine Zweit- oder Mehrfachausbildungen. Dies vermeide Fehlanreize. Um unbillige Härten abzumildern, seien die in der Rechtsprechung des BGH (zB Urteile vom 30.11.1994 - XII ZR 215/93 - NJW 1995, 718 - "mehrstufige Ausbildung" und vom 17.5.2006 - XII ZR 54/04 - "Fehleinschätzung der Begabung") anerkannten Ausnahmen zu berücksichtigen, die hier aber nicht vorlägen. Diese Grundsätze würden jedenfalls für Waisenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gelten, wie das BSG (Urteile vom 29.5.1979 - 4 RJ 33/78 - SozR 2200 § 1267 Nr 20 und vom 18.6.2003, aaO - Promotionsstudent) bereits entschieden habe.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Juni 2017 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 18. Juli 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die geltend gemachte Verletzung des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII liegt nicht vor. Zu Recht hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen den stattgebenden Gerichtsbescheid des SG Marburg vom 18.7.2016 zurückgewiesen, weil die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1 und Abs 4 SGG) der Klägerin begründet ist. Denn die Ablehnungsentscheidung in dem Bescheid vom 17.2.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.6.2014 (§ 95 SGG) ist materiell rechtswidrig und beschwert die Klägerin (§ 54 Abs 2 S 1 SGG). Als Hinterbliebene des Versicherten hat sie vom 1.7.2013 bis zum 30.6.2014 Anspruch auf Halbwaisenrente. Soweit sie vor dem SG "mit Wirkung ab dem 01.07.2014 weiterhin Waisenrente" beantragt hatte, war das Gericht an die Fassung dieses Antrags nicht gebunden, weil es sich dabei offenbar um einen Schreibfehler (vgl § 138 S 1 SGG) handelt und die Klägerin zweifellos einen Waisenrentenanspruch ab dem 1.7.2013 geltend gemacht hat (§ 123 SGG).

Gemäß § 63 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB VII haben Hinterbliebene Anspruch auf Hinterbliebenenrenten, wenn der Tod des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls eingetreten ist (S 2 aaO). Kinder von verstorbenen Versicherten erhalten Hinterbliebenenrente in Form der Halbwaisenrente, wenn sie noch einen Elternteil haben (§ 67 Abs 1 Nr 1 SGB VII). Halbwaisenrente wird nach § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gezahlt, wenn die Waise sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befindet. Eine Schulausbildung im Sinne dieser Vorschrift liegt nur vor, wenn die Ausbildung einen tatsächlichen zeitlichen Aufwand von wöchentlich mehr als 20 Stunden erfordert (§ 67 Abs 3 S 2 SGB VII idF des Art 4 Nr 2 Buchst a des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 21.7.2004 BGBl I 1791, 1802>). Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil des LSG (§ 163 SGG) liegen diese Voraussetzungen vor: Die 1994 geborene Klägerin, deren Mutter noch lebt, ist Tochter und Hinterbliebene des Versicherten, der am 22.12.1998 infolge eines Arbeitsunfalls verstorben ist. Vor Vollendung ihres 27. Lebensjahres besuchte sie vom 19.8.2013 bis zum 17.6.2014 in Hessen die Fachoberschule, die nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 162 SGG) zum einschlägigen, nicht revisiblen § 37 des Hessischen Schulgesetzes (HSchG) zu den studienqualifizierenden "Schulen" zählt. Damit befand sie sich "in Schulausbildung", und zwar im Vollzeitunterricht (§ 37 Abs 2 S 5 HSchG), dh mit einem tatsächlichen zeitlichen Aufwand von wöchentlich mehr als 20 Stunden (§ 67 Abs 3 S 2 SGB VII).

Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass die Klägerin bereits eine Berufsausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten erfolgreich abgeschlossen hatte, als sie am 19.8.2013 den Besuch der Fachoberschule aufnahm. Dabei ist bedeutungslos, dass Ausbildungsförderung gemäß § 7 Abs 1 S 1 BAföG grundsätzlich nur für die Erstausbildung bis zu einem berufsqualifizierenden Abschluss geleistet wird (BVerwG Urteile vom 29.11.2018 - 5 C 10/17 - Juris RdNr 12 und vom 4.6.1981 - 5 C 41.79 - Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr 23 S 18; Nolte in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Aufl 2018, § 7 BAföG RdNr 3). Ebenso unerheblich ist, ob die Klägerin gemäß § 1610 Abs 2 BGB gegen den Versicherten, wenn er noch lebte, Anspruch auf...

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