Urteil Nr. B 2 U 30/17 R des Bundessozialgericht, 2019-05-07

Judgment Date07 Mayo 2019
ECLIDE:BSG:2019:070519UB2U3017R0
Judgement NumberB 2 U 30/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. Oktober 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Klägerin eine Halbwaisenrente zu zahlen ist.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin nach Abschluss einer ersten Berufsausbildung eine Halbwaisenrente auch für die Zeit einer weiteren Berufsausbildung zu gewähren ist.

Die 1995 geborene Klägerin ist die Tochter des in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten, der am 11.5.2001 infolge eines Arbeitsunfalls verstarb. Der Unfallversicherungsträger gewährte der Klägerin zunächst eine Halbwaisenrente bis zum 31.8.2013, dem Monat der Vollendung des 18. Lebensjahres (Bescheid vom 24.10.2001). Die Klägerin erlangte nach einem achtjährigen Besuch des Gymnasiums im Jahr 2013 die allgemeine Hochschulreife. Vom 1.10.2013 bis 30.9.2016 durchlief sie eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Physiotherapeutin. Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin Halbwaisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus für die Dauer der Berufsausbildung als Physiotherapeutin bis längstens zum 30.9.2016 (Bescheid vom 18.11.2013). Zum Ablauf des September 2016 entzog die Beklagte die Halbwaisenrente (Bescheid vom 29.8.2016).

Die Klägerin nahm nach Abschluss ihrer Ausbildung als Physiotherapeutin zum 1.10.2016 ein Hochschulstudium auf und beantragte die Weiterzahlung der Waisenrente. Sie studierte nach Immatrikulation ab dem 1.10.2016 an einer Universität die Hauptfächer Französisch, Geografie und Erziehungswissenschaften für das Lehramt an Realschulen. Die Beklagte lehnte die Weitergewährung der Waisenrente über den 30.9.2016 hinaus ab, weil die Waisenrente in Anlehnung an das zivilrechtliche Unterhaltsrecht nur bis zu dem Abschluss der ersten Berufsausbildung gezahlt werde, mit der die Waise auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden könne. Einen solchen Abschluss habe die Klägerin als staatlich anerkannte Physiotherapeutin erlangt. Sie könne für ihren Unterhalt selbst aufkommen, eine Unterhaltspflicht der Eltern bestehe nicht (Bescheid vom 24.10.2016 und Widerspruchsbescheid vom 12.1.2017).

Das SG hat die Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Waisenrente über den 30.9.2016 hinaus zu gewähren (Urteil vom 26.4.2017). Die Waisenrente sei weiter zu zahlen, weil sich die Klägerin als Studentin ab dem 1.10.2016 in einer Berufsausbildung iS des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII befinde. Unter Berufsausbildung in diesem Sinne sei auch eine weitere Berufsausbildung zu verstehen. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 5.10.2017). Die Klägerin habe Anspruch auf Zahlung einer Halbwaisenrente über den 30.9.2016 hinaus, weil das seit dem 1.10.2016 von ihr betriebene Studium eine Berufsausbildung iS des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a Alt 2 SGB VII sei. Eine erste abgeschlossene Berufsausbildung schließe den Anspruch auf eine Waisenrente während ihrer zweiten Berufsausbildung nicht aus. Die von der Beklagten vertretene einschränkende Auslegung des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII werde weder durch dessen Wortlaut noch durch eine Auslegung nach den anerkannten juristischen Auslegungsmethoden gestützt. Auch wenn die Waisenrente wie andere Hinterbliebenenleistungen eine unterhaltsersetzende Funktion habe, die typisierend den Wegfall eines unterstellten gesetzlichen Unterhaltsanspruchs gegen den Versicherten ausgleichen solle, seien die dem Unterhaltsrecht eigenen Voraussetzungen der Unterhaltsbedürftigkeit und Leistungsfähigkeit keine Voraussetzung für eine Waisenrente der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwar entspreche es der Rechtsprechung des BSG zur Halbwaisenrente nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (BSG Urteil vom 18.6.2003 - B 4 RA 37/02 R - SozR 4-2600 § 48 Nr 2 RdNr 17 = Juris RdNr 23 mwN), dass der Erwerbshinderungsgrund einer Berufsausbildung immer dann beendet sei, wenn der erste auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Abschluss erreicht sei. Anders als im SGB VI, nach dem gemäß § 48 Abs 1 Nr 1 SGB VI der überlebende Elternteil unbeschadet der wirtschaftlichen Verhältnisse unterhaltspflichtig sein müsse, verweise § 67 Abs 1 SGB VII nicht auf die zivilrechtliche Unterhaltspflicht. Wo unterhaltsrechtliche Vorschriften maßgebend sein sollen, sei dies im Gesetz - wie etwa bei der Witwen- oder Witwerrente an frühere Ehegatten in § 66 Abs 1 S 2 SGB VII - ausdrücklich bestimmt.

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII. Das ab dem 1.10.2016 als zweite Berufsausbildung betriebene Lehramtsstudium der Klägerin nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung zur staatlich anerkannten Physiotherapeutin erfülle nicht mehr den Tatbestand der Schul- und Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschrift. § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII sei einschränkend dahin auszulegen, dass Waisenrente nicht zu zahlen sei, wenn die Waise - wie hier - durch eine erfolgreiche Ausbildung eigenständig ihren Lebensunterhalt bestreiten könne. Gegen den Anspruch auf Waisenrente für Zweitausbildungen spreche bereits, dass diese Vorschrift die Begriffe "Schulausbildung oder Berufsausbildung" im Singular und nicht im Plural verwende. Der Gesetzgeber habe den Tatbestand des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII bewusst weit gefasst, um der Vielfalt der Ausbildungen Rechnung tragen zu können. Anhand der unergiebigen "amtlichen Begründung" könne nicht entschieden werden, ob der Waisenrentenanspruch nur Erstausbildungen erfasse. Vielmehr gebiete die Einheit der Rechtsordnung, vergleichbare Regelungen aus anderen Rechtsgebieten, wie die Regelungen des zivilrechtlichen Unterhaltsrechts oder der Waisenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung, als Auslegungshilfen heranzuziehen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 18.6.1975 - 1 BvL 4/74 - BVerfGE 40, 121 = SozR 2400 § 44 Nr 1) deckten Waisenrenten nach ihrem Sinn und Zweck lediglich den Bedarf, der durch den Ausfall der elterlichen Unterhaltsleistungen typischerweise entstehe. Wie § 1610 BGB zeige, ende der Unterhaltsbedarf eines Kindes, sobald es nach Abschluss einer Ausbildung in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten. Um unbillige Härten abzumildern, seien die in der Rechtsprechung des BGH (zB Urteile vom 30.11.1994 - XII ZR 215/93 - NJW 1995, 718 - "mehrstufige Ausbildung" und vom 17.5.2006 - XII ZR 54/04 - "Fehleinschätzung der Begabung") anerkannten Ausnahmen zu berücksichtigen, die hier aber nicht vorlägen. Diese Grundsätze würden jedenfalls für Waisenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gelten, wie das BSG (Urteile vom 29.5.1979 - 4 RJ 33/78 - SozR 2200 § 1267 Nr 20 und vom 18.6.2003 - B 4 RA 37/02 R - SozR 4-2600 § 48 Nr 2 RdNr 17 = Juris RdNr 23) bereits entschieden habe. Auch das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) fördere grundsätzlich keine Zweit- oder Mehrfachausbildungen. Hierdurch würden Fehlanreize vermieden.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. Oktober 2017 und des Sozialgerichts Heilbronn vom 26. April 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend. Ergänzend führt sie aus, sie habe nachgewiesen, dass sie zum Zeitpunkt ihres Abiturs in ihrer Entwicklung noch nicht soweit gewesen sei, sich für einen ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Beruf entschließen zu können. So sei sie von ihrem Stiefvater in eine Berufsausbildung gedrängt worden und habe erst später erkannt, dass der Beruf der Physiotherapeutin nicht ihren Neigungen und Fähigkeiten entspreche.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des SG zurückgewiesen, weil die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 iVm Abs 4 SGG) der Klägerin begründet ist. Die ablehnende Entscheidung in dem angefochtenen Bescheid vom 24.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.1.2017 ist materiell rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs 2 S 1 SGG). Als Hinterbliebene des Versicherten hat die Klägerin Anspruch auf Zahlung der Halbwaisenrente auch für die Zeit ab dem 1.10.2016, weil sie das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und sich trotz einer bereits abgeschlossenen Ausbildung ab dem 1.10.2016 weiter in einer Berufsausbildung iS des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII befand. Der Tenor des Urteils des SG war allerdings dahin zu fassen, dass die Beklagte nicht zur Zahlung einer Waisenrente, sondern, wie von ihr auch nur begehrt, zu einer Halbwaisenrente über den 30.9.2016 hinaus zu verurteilen war.

Gemäß § 63 Abs 1 S 1 Nr 3 und S 2 SGB VII haben Hinterbliebene von Versicherten Anspruch auf Hinterbliebenenrenten, wenn der Tod des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls eingetreten ist. Versicherungsfälle nach § 7 Abs 1 SGB VII sind ua Arbeitsunfälle. Kinder von verstorbenen Versicherten erhalten eine Halbwaisenrente, wenn sie noch einen Elternteil haben (§ 67 Abs 1 Nr 1 SGB VII). Halbwaisenrente wird bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gezahlt, wenn sich die Waise in Schul- oder Berufsausbildung befindet (§ 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII). Nach § 67 Abs 3 S 2 SGB VII (in der hier anwendbaren Fassung des seit 1.8.2004 geltenden Art 4 Nr 2 Buchst a RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21.7.2004, BGBl I 1791) liegt eine Schul- oder Berufsausbildung iS des § 67 Abs 3 S 1 SGB VII nur dann vor, wenn die Ausbildung einen tatsächlichen zeitlichen Aufwand von wöchentlich mehr als 20 Stunden erfordert.

Nach diesen Vorschriften hat die Klägerin Anspruch auf Zahlung einer Halbwaisenrente auch ab 1.10.2016, denn nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen...

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