Urteil Nr. B 6 KA 64/17 R des Bundessozialgericht, 2019-04-03

Judgment Date03 Abril 2019
ECLIDE:BSG:2019:030419UB6KA6417R0
Judgement NumberB 6 KA 64/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Vertragsärztliche Versorgung - überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft - besonderer Versorgungsauftrag zur Dialysebetreuung - Mitnahmeverbot bei Ausscheiden eines Arztes - sozialgerichtliches Verfahren - defensive Konkurrentenklage - Recht zur Drittanfechtung bei gemeinschaftlicher Berufsausübung
Leitsätze

1. Die Regelung, dass bei Ausscheiden eines Arztes der Versorgungsauftrag in der Dialysepraxis verbleibt (sog Mitnahmeverbot), gilt grundsätzlich auch für eine in der Dialyseversorgung tätige überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft.

2. Das Recht zur Drittanfechtung der einem Konkurrenten erteilten Dialysegenehmigung steht bei gemeinschaftlicher Berufsausübung nur der Berufsausübungsgemeinschaft und nicht dem einzelnen ihr angehörenden Arzt zu.

Tenor

Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 9. August 2017 werden zurückgewiesen.

Die Kläger tragen auch die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Tatbestand

Im Streit steht die Rechtmäßigkeit eines Bescheids, mit dem die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) dem zu 2. beigeladenen Vertragsarzt nach dessen Ausscheiden aus einer überörtlichen, in der Dialyseversorgung tätigen Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) die Genehmigung zur Übernahme eines besonderen Versorgungsauftrags für die Betreuung von Dialysepatienten an seinem bisherigen Vertragsarztsitz erteilte.

Die Kläger sind Internisten mit Schwerpunkt Nephrologie und seit 1.4.2006 mit Vertragsarztsitz in W (im Folgenden: W) zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie haben sich ab 1.1.2008 in einer BAG zur gemeinsamen ärztlichen Tätigkeit zusammengeschlossen. Ursprünglich gab es in W keine Dialyseeinrichtung. Vielmehr existierten in dem ca 8 km entfernten B formal zwei Dialysepraxen, und zwar die vom Kläger zu 1. (Dr. Sz ) mit den Beigeladenen zu 2. (Prof. Dr. Wr ) und zu 3. (Dr. We ) gebildete Gemeinschaftspraxis (GP 1) sowie die weitere Gemeinschaftspraxis (GP 2) des Klägers zu 2. (Dr. Sr ) und eines anderen Arztes (Dr. St - vormals ebenfalls Mitglied der GP 1); beide Gemeinschaftspraxen waren in Praxisgemeinschaft verbunden. Der Beigeladene zu 2. war zum 1.4.1998, der Kläger zu 1. zum 1.4.2003 der GP 1 beigetreten; der Kläger zu 2. hatte sich der GP 2 zum 1.10.2004 angeschlossen. Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) hatte jedem der genannten Ärzte eine (inhaltsgleiche) Genehmigung zur Übernahme eines besonderen Versorgungsauftrags mit Wirkung ab 1.10.2004 gemäß § 3 Abs 3a der Anlage 9.1 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) bzw zum Arzt-/Ersatzkassenvertrag (EKV) erteilt. Die Bescheide enthielten die Nebenbestimmung, dass sich der besondere Versorgungsauftrag auf die jeweilige Gemeinschaftspraxis sowie die Praxisgemeinschaft mit der weiteren Gemeinschaftspraxis in B sowie die ausgelagerten Praxisstätten in D und N beschränke und die kontinuierliche Versorgung von bis zu 200 Patienten umfasse.

Nachfolgend beschlossen die genannten Ärzte, die Dialysepraxis von B nach W zu verlagern. Da aber nach den Angaben der Kläger ein vollständiger Umzug zunächst nicht durchführbar war, sollte vorübergehend in B eine Betriebsstätte beibehalten werden. Dementsprechend verlegten der Kläger zu 1. und der Beigeladene zu 3. (GP 1) sowie der Kläger zu 2. und dessen Praxispartner (GP 2) ihre Vertragsarztsitze zum 1.4.2006 nach W. Der Beigeladene zu 2. verblieb am bisherigen Vertragsarztsitz in B; dadurch wurde die GP 1 zur überörtlichen Gemeinschaftspraxis. Die Beklagte berücksichtigte dies in ihren Genehmigungsbescheiden vom 30./31.5.2006, indem sie ab dem 1.4.2006 den ansonsten unveränderten Versorgungsauftrag auf die überörtliche GP 1 sowie deren Praxisgemeinschaft mit der GP 2 am Standort W sowie auf die ausgelagerten Praxisstätten in D und N bezog. Nach Eintritt eines weiteren Arztes (Dr. Hm ) in die GP 1 (nunmehr: überörtliche BAG) zum 1.7.2007 erhöhte die Beklagte die Zahl der zu versorgenden Patienten auf maximal 250.

Nach Auflösung der GP 2 zum 30.9.2007 beschränkte die Beklagte den Versorgungsauftrag für die GP 1 (überörtliche BAG) auf die Betreuung von bis zu 200 Patienten in W, B und in den ausgelagerten Praxisstätten. Zugleich erteilte sie Dr. St einen Versorgungsauftrag für bis zu 100 Patienten für die Praxis in W und die ausgelagerten Praxisstätten, verbunden mit der Auflage, bis zum 31.3.2008 einen weiteren Arzt in die Praxis aufzunehmen. Nachdem sich Dr. Sr und Dr. St jedoch der überörtlichen BAG angeschlossen hatten, bezog die Beklagte den Versorgungsauftrag ab 1.4.2008 auf die überörtliche BAG mit den Standorten in W und B und den ausgelagerten Praxisstätten sowie für die Betreuung von bis zu 300 Patienten (Bescheide vom 2.7.2008). Dr. St schied zum 30.6.2008 wieder aus der BAG aus; er wurde ab 1.7.2008 durch Prof. Dr. Q und dieser ab 1.7.2010 durch einen angestellten Arzt ersetzt (Bescheide zuletzt vom 15.7.2010).

Der Beigeladene zu 2. (Prof. Dr. Wr) kündigte die überörtliche BAG zum 31.12.2010. Er informierte die Beklagte, dass er künftig zusammen mit dem Beigeladenen zu 3. (Dr. We), der seinen Vertragsarztsitz verlegen werde, die Standorte B, D und N versorgen wolle, während die Kläger (Dr. Sz und Dr. Sr) den Standort W betreuen sollten. Die Kläger teilten der Beklagten jedoch mit, sie würden die BAG fortführen und den in der Dialysepraxis verbleibenden Versorgungsauftrag weiterhin erfüllen. Daraufhin erkundigte sich die Beklagte bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KÄBV) über die Auslegung des § 4 Abs 1b Anlage 9.1 BMV-Ä für den Fall der Beendigung von überörtlichen BAG. Die KÄBV vertrat den Standpunkt, dass die Vorschrift eine Zersplitterung der Dialyseversorgung durch immer kleinere Praxen mit eigenem Versorgungsauftrag verhindern solle und sich daher nur auf die Situation beziehe, dass ein Arzt - sozusagen "vor Ort" - aus einer Praxis mit nephrologischem Versorgungsauftrag ausscheide. Eine analoge Anwendung bei Auflösung/Beendigung einer überörtlichen BAG sei nicht intendiert gewesen, zumal deren Gründung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung noch nicht möglich gewesen sei. In dem von der Beklagten geschilderten Fall könne es sinnvoll sein, dass bei Auflösung der überörtlichen BAG beide Praxen wieder in dem Umfang an der Dialyseversorgung teilnehmen könnten, der vor der Gründung der überörtlichen BAG bestanden habe (Schreiben vom 14.12.2010). Nach Information aller bisherigen Mitglieder der BAG über die Stellungnahme der KÄBV stellte der Beigeladene zu 2. (Prof. Dr. Wr) vorsorglich den Antrag, ihm die Genehmigung eines besonderen Versorgungsauftrags zur Dialyse am Praxisstandort B sowie in den Zweigpraxen D und N zu erteilen.

Die Beklagte widerrief gegenüber dem Beigeladenen zu 2. mit Wirkung zum 31.12.2010 den zuletzt mit Bescheid vom 15.7.2010 angepassten Versorgungsauftrag. Zugleich erteilte sie ihm ab 1.1.2011 die Genehmigung zur Übernahme eines besonderen Versorgungsauftrags für den Standort in B sowie die ausgelagerten Praxisstätten in D und N für die kontinuierliche Betreuung von bis zu 30 Patienten (Bescheid vom 30.12.2010). In weiteren Bescheiden vom 30.12.2010, die gleichlautend an die Kläger zu 1. und zu 2. sowie an den Beigeladenen zu 3. gerichtet waren, beschränkte die Beklagte den Versorgungsauftrag dieser Ärzte nunmehr auf die "Gemeinschaftspraxis" der Adressaten am Standort W sowie die ausgelagerten Praxisstätten in D und N und auf (zunächst) bis zu 250 Patienten. Sämtliche Bescheide wurden für sofort vollziehbar erklärt.

Die Kläger zu 1. und zu 2. erhoben im Januar 2011 durch ihren Prozessbevollmächtigten Drittwiderspruch gegen den an den Beigeladenen zu 2. gerichteten Bescheid vom 30.12.2010. Die Beklagte wies den Rechtsbehelf zurück (Widerspruchsbescheid vom 9.6.2011). Es sei fraglich, ob die Kläger als Einzelärzte überhaupt aktivlegitimiert seien, da der Gesellschaftsvertrag der BAG eine gemeinschaftliche rechtsgeschäftliche Vertretung vorsehe. Auch bei Bejahung der Aktivlegitimation könne der Widerspruch jedoch keinen Erfolg haben, weil Anlage 9.1 BMV-Ä keinen Drittschutz vermittle und somit die Anfechtungsbefugnis fehle. Ungeachtet dessen sei der dem Beigeladenen zu 2. erteilte Bescheid rechtmäßig. Diesem sei keine neue Genehmigung erteilt, vielmehr sei sie lediglich aus dem Versorgungsauftrag der BAG "separiert" und sogar auf 30 Patienten eingeschränkt worden; die Kläger seien somit keinem neuen Konkurrenten ausgesetzt. Das Herauslösen eines Versorgungsauftrags für den Beigeladenen zu 2. aus dem Versorgungsauftrag der BAG sei nicht zu beanstanden, da § 4 Abs 1b Anlage 9.1 BMV-Ä nur Dialysepraxen erfasse, wozu die in Abs 1a (aaO) genannten überörtlichen BAG nicht gehörten.

Auf die ausdrücklich für den Kläger zu 1. und den Kläger zu 2. erhobene Klage hat das SG die BAG Dr. H und Dr. K (Beigeladene zu 1.), die eine Dialysepraxis in E mit weiterem Standort in N betreibt, sowie Prof. Dr. Wr (Beigeladener zu 2.) und Dr. We (Beigeladener zu 3.), der nach Mitteilung der Kläger am 7.11.2011 aus ihrer BAG ausgeschieden war, zum Verfahren beigeladen. Das SG hat den hier streitbefangenen Bescheid vom 30.12.2010 aufgehoben (Urteil vom 23.9.2015). Nach seiner Ansicht waren die Kläger für die Anfechtungsklage aktivlegitimiert. Da die von der Beklagten ab 1.1.2011 neu gestalteten Versorgungsaufträge mit gesonderten Bescheiden an die Kläger und den Beigeladenen zu 3. adressiert worden seien, sei nicht allein die BAG für eine Drittklage anfechtungsberechtigt, sondern auch die Kläger. Diese böten im selben räumlichen Bereich die gleichen Leistungen wie der Beigeladene zu 2. an. Zudem komme den Klägern als Inhabern einer bereits erteilten Genehmigung zur Versorgung von Dialysepatienten Vorrang gegenüber dem Beigeladenen zu 2. zu; dieser könne eine neue Genehmigung nur nach Feststellung eines Versorgungsbedarfs erhalten. Die Erteilung der Dialysegenehmigung an den Beigeladenen zu 2. sei rechtswidrig. Die Heraustrennung eines Versorgungsauftrags für B aus dem...

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