Urteil Nr. B 8 SO 2/19 R des Bundessozialgericht, 2020-07-03

Judgment Date03 Julio 2020
ECLIDE:BSG:2020:030720UB8SO219R0
Judgement NumberB 8 SO 2/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialgerichtliches Verfahren - notwendige Beiladung des Sozialhilfeempfängers bei Geltendmachung von Kostenersatz nach § 103 SGB XII gegenüber einem Dritten - Sozialhilfe - Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten - Geltendmachung nur dem Grunde nach - hinreichende Bestimmtheit des Bescheides - Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung - Hilfe bei Krankheit - Vorrang der Quasiversicherung nach § 264 Absatz 2 SGB V - Hilfe zur Pflege - erweiterte Hilfe nach § 19 Absatz 5 SGB XII - rechtlicher Betreuer als Adressat des § 103 SGB XII - Sozialwidrigkeit des Verhaltens - rechtmäßiges Alternativverhalten - Kausalität für die Hilfebedürftigkeit - Beratungspflichten des Sozialhilfeträgers
Leitsätze

1. Ein Betreuer ist als "Dritter" vom Adressatenkreis der Norm über den Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten ("für sich oder andere") erfasst, ohne dass es dafür weiterer übergesetzlicher Voraussetzungen, etwa einer Garantenstellung gegenüber den Vermögensinteressen des Sozialhilfeträgers, bedürfte.
2. Der Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten setzt als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal eine besondere Vorwerfbarkeit im Sinne der "Sozialwidrigkeit" des Verhaltens beziehungsweise des Unterlassens des Ersatzpflichtigen voraus (Anschluss an BSG vom 2.11.2012 - B 4 AS 39/12 R = BSGE 112, 135 = SozR 4-4200 § 34 Nr 1).

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. März 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit Kostenersatz für erbrachte Leistungen der Hilfe zur Pflege verlangt wird. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Tatbestand

Im Streit ist ein Anspruch auf Kostenersatz wegen schuldhaften Verhaltens.

Der Kläger war ab 2002 bis Mai 2006 Betreuer der 1952 geborenen H. Sein Aufgabenkreis erstreckte sich ua auf die Sorge für die Gesundheit und die Vermögenssorge. H erhielt aus dem Vermächtnis ihres verstorbenen Lebensgefährten anteilige monatliche Pachtzahlungen in Höhe von 1512,65 Euro. Die Pacht wurde von der Nichte des früheren Lebensgefährten (G) monatlich auf das Konto der H überwiesen und stellte deren einziges Einkommen dar. H war freiwillig kranken- und pflegeversichert.

Am 10.2.2003 wurde H stationär in ein Alten- und Pflegeheim aufgenommen. Sie war, mit Ausnahme eines vorübergehenden Zeitraums (10.2. bis 31.8.2003), für den der Beklagte Hilfe zur Pflege nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) leistete, unter Berücksichtigung ihres Einkommens und der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in der Lage, die laufenden monatlichen Kosten für die Heimunterbringung und Pflege sowie die Beiträge für ihre freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung selbst zu zahlen.

Im Frühjahr 2005 unterbrach G die Pachtzahlungen. Die Krankenkasse informierte H (mit Schreiben vom 22.4.2005; ein Duplikat ging an den Kläger), dass die kontoführende Bank die Lastschrift der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1.3. bis 31.3.2005 nicht eingelöst habe. Deshalb habe man vorsorglich das Lastschriftverfahren eingestellt. H wurde aufgefordert, die rückständigen Beiträge innerhalb von fünf Tagen zu überweisen. Mit Schreiben der Krankenkasse vom 20.5.2005, gerichtet unmittelbar an den Kläger, wurde dieser über eine drohende Beendigung des Versicherungsschutzes der H zum 15.6.2005 wegen fehlender Beitragszahlungen informiert und um Ausgleich des Beitragskontos gebeten. Mit Schreiben vom 25.5.2005 informierte die Krankenkasse H (wiederum ging ein Duplikat an den Kläger) darüber, dass das Beitragskonto für die Zeit vom 1.3. bis 30.4.2005 nicht gedeckt sei. Das Schreiben enthält weiter den Hinweis, dass die freiwillige Mitgliedschaft ende, wenn für zwei Monate die fälligen Beiträge nicht gezahlt würden; die Satzung sehe als Fälligkeitstag jeweils den 15. des Monats vor. H wurde aufgefordert, den ausstehenden Betrag schnellstmöglich zu zahlen, damit der Versicherungsschutz zur Kranken- und Pflegeversicherung nicht zum 15.6.2005 ende. Das Schreiben enthält den Hinweis, dass eine wegen Zahlungsverzugs beendete freiwillige Krankenversicherung von keiner Kasse fortgeführt werden dürfe. Unter den Voraussetzungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) sei die Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen durch den Sozialhilfeträger möglich. Man empfehle, ggf beim Sozialhilfeträger einen Antrag auf Beitragsübernahme zu stellen.

Der Kläger setzte sich, bevor er einen mehrwöchigen Urlaub antrat, Anfang Juni 2005 telefonisch mit G in Verbindung, die ihm zugesicherte, die Rückstände auszugleichen. Mit Wirkung vom 15.6.2005 wurde die Mitgliedschaft der H in der Kranken- und Pflegeversicherung beendet. Am 6.9.2005 informierte der Kläger den Beklagten (und am gleichen Tag auch die Pflegeeinrichtung), dass H ab 15.6.2005 aus der freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung wegen Beitragsrückständen ausgeschlossen worden sei und legte die Schreiben der Krankenkasse vom 22.4. und 25.5.2005 vor. Zugleich beantragte er Sozialhilfeleistungen für H. Der Beklagte stellte sog "Kostengarantiescheine" zur Sicherung der medizinischen Versorgung der H aus, bewilligte (Bescheid vom 15.5.2006) ab 6.9.2005 bis 31.12.2006 vorläufig Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt in Einrichtungen, Barbetrag, Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Gesundheit) und setzte den Einkommenseinsatz auf 1512,65 Euro fest. Die Leistungsbewilligung erfolge vorläufig, weil noch geprüft werden müsse, ob ggf überleitungsfähige Ansprüche gegen den Betreuer bestünden, da dieser zumindest grob fahrlässig die Sozialhilfebedürftigkeit herbeigeführt habe.

"Für die seit dem 6.9.2005 und in Zukunft entstehenden Krankenhilfeleistungen sowie nicht vereinnahmten Leistungen und der Pflegeversicherung" forderte der Beklagte vom Kläger "Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten" dem Grunde nach (Bescheid vom 3.12.2008; Widerspruchsbescheid vom 6.7.2009). Während das Sozialgericht (SG) Frankfurt die dagegen gerichtete Klage abgewiesen hat (Urteil vom 24.8.2017), hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG aufgehoben und der Klage stattgegeben (Urteil vom 13.3.2019). Zur Begründung hat es ausgeführt, das Verhalten des Klägers sei nicht sozialwidrig iS des § 103 SGB XII und die Inanspruchnahme auf Kostenersatz deshalb ausgeschlossen. Es könne offen bleiben, ob der Verlust des Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes aufgrund gesetzlicher Versicherung angesichts eines bloßen "Schuldnerwechsels" (statt Beitragszahler jetzt Steuerzahler) überhaupt mit dem Vorwurf der Sozialwidrigkeit versehen werden könne. Denn selbst wenn dies bejaht würde, bestünden Betreuerpflichten regelhaft nur im Verhältnis zum Betreuten und nur ausnahmsweise gegenüber Dritten. Dies sei insbesondere in den Blick zu nehmen, wenn es, wie im vorliegenden Verfahren, um ein Unterlassen gehe. Dem Betreuer komme keine Garantenstellung für die Vermögensinteressen des Sozialhilfeträgers zu. Dies führe zwar nicht dazu, dass Pflichtverletzungen eines Betreuers unbegrenzt auf den Sozialhilfeträger abgewälzt werden könnten. Vielmehr sei denkbar, dass ein Schadensersatzanspruch der Betreuten gegen den Betreuer über § 116 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) - auf den Sozialhilfeträger übergehe. Dabei handle es sich jedoch um einen anderen Streitgegenstand als den Kostenersatzanspruch nach § 103 SGB XII, für den zudem die Zivilgerichte zuständig seien.

Mit seiner Revision macht der Beklagte einen Verstoß gegen § 103 SGB XII und den Nachranggrundsatz (§ 2 SGB XII) geltend. Das LSG sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass § 103 SGB XII neben einem vorsätzlichen oder grob fahrlässigen auch ein sozialwidriges Verhalten verlange. Ein solches läge aber ohnedies vor. Die Ersatzpflicht nach § 103 SGB XII sei, anders als noch in § 92a BSHG geregelt, auf Dritte ausgeweitet worden. Der Umstand, dass dem Kläger kein aktives Handeln, sondern ein Unterlassen vorgeworfen werde, hindere die Annahme eines pflicht- oder sozialwidrigen Verhaltens nicht. Ein anderes Verständnis würde zum Leerlaufen des § 103 SGB XII führen. § 103 SGB XII stelle eine spezielle Haftungsregelung im SGB XII dar, sodass der Sozialhilfeträger nicht auf zivilrechtliche Haftungsvorschriften im Verhältnis zwischen Betreuer und Betreute verwiesen werden könne.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. März 2019 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 24. August 2017 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte trotz des Ausbleibens der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung über den Rechtsstreit verhandeln und entscheiden, weil die Bevollmächtigte ordnungsgemäß geladen und hierbei auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung an dieses Gericht begründet, soweit Kostenersatz für geleistete Hilfe zur Pflege geltend gemacht wird (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>); im Übrigen ist die Revision unbegründet (§ 170 Abs 1 SGG). Der angefochtene Bescheid ist schon formell rechtswidrig, soweit wegen "nicht vereinnahmten Leistungen" Kostenersatz verlangt wird, und materiell rechtswidrig, soweit der Beklagte den Kläger auf Kostenersatz wegen des Verlustes des Krankenversicherungsschutzes der H und geleisteter Hilfe bei Krankheit in Anspruch nimmt. Soweit Kostenersatz wegen Aufwendungen zur Deckung der pflegerischen Bedarfe der H und für ihren (in der Hilfe zur Pflege inkludierten) Lebensunterhalt geltend gemacht wird, ist der Anwendungsbereich des § 103 SGB XII entgegen der Auffassung des LSG auch gegenüber dem rechtlichen Betreuer eröffnet; dem Senat ist eine abschließende Entscheidung aber nicht möglich, weil das LSG ausgehend...

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