Urteil Nr. B 8 SO 20/16 R des Bundessozialgericht, 2018-04-25

Judgment Date25 Abril 2018
ECLIDE:BSG:2018:250418UB8SO2016R0
Judgement NumberB 8 SO 20/16 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialhilfe für Ausländer - Hilfe zum Lebensunterhalt - tatsächlicher Aufenthalt im Inland - mehr als vierwöchiger Auslandsaufenthalt - Niederlassungserlaubnis - Europäisches Fürsorgeabkommen
Leitsätze

In Deutschland lebende Ausländer haben nach einem mehr als vier Wochen ununterbrochen andauernden Auslandsaufenthalt keinen Anspruch auf Gewährung eines Regelsatzes als Hilfe zum Lebensunterhalt.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 2016 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) während eines Auslandsaufenthalts im Mai 2013.

Die 1979 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland. Sie verfügt über eine Niederlassungserlaubnis und bezog im streitigen Zeitraum eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die beklagte Stadt bewilligte der Klägerin für April 2013 Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 575,99 Euro mit dem Hinweis, dass die Leistungen bei gleichbleibenden Verhältnissen für nachfolgende Zeiträume durch Zahlung weiterbewilligt würden (Bescheid vom 27.3.2013). Wegen eines Auslandsaufenthalts in der Türkei (2.4. bis 22.5.2013) stellte die Beklagte die Leistung ab Mai 2013 vorläufig ein (Bescheid vom 29.4.2013). Der Widerspruch der Klägerin war für die Zeit ab ihrer Rückkehr sowie hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung erfolgreich (Bescheid vom 27.6.2013, Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter vom 21.10.2013).

Während das Sozialgericht (SG) Detmold der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt hat, der Klägerin für die Zeit vom 1. bis 22.5.2013 weitere Leistungen in Höhe von 254,67 Euro zu zahlen (Urteil vom 17.3.2015), hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen die Klage abgewiesen (Urteil vom 18.2.2016). Ein Anspruch der Klägerin sei ausgeschlossen, weil sie sich nicht entsprechend § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII im Inland tatsächlich aufgehalten habe. Soweit nach § 23 Abs 1 Satz 4 SGB XII die Einschränkungen des § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII nicht für Ausländer mit Niederlassungserlaubnis gölten, beziehe sich dies ausschließlich auf das eingeschränkte Leistungsspektrum, nicht aber auf das Erfordernis des tatsächlichen Aufenthalts. Die Klägerin könne sich auch nicht auf das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) berufen, weil seine Anwendung ebenfalls den tatsächlichen Aufenthalt im Inland voraussetze.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 23 SGB XII. Das Erfordernis des tatsächlichen Aufenthalts nach § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII sei für Ausländer mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland (§ 30 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - SGB I>) eine Einschränkung iS des § 23 Abs 1 Satz 4 SGB XII und entfalle bei einem Ausländer mit Niederlassungserlaubnis. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten bleibe nach § 98 Abs 1 Satz 2 SGB XII bestehen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 2016 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17. März 2015 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz SGG>). Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen zur Erwerbsminderung/Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht abschließend entscheiden, ob sie von der Beklagten Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII für die Zeit ihres Auslandsaufenthalts verlangen kann.

Gegenstand des Verfahrens (§ 95 SGG) ist der "Einstellungs-"Bescheid vom 29.4.2013, mit dem die Beklagte Leistungen für die Zeit ab dem 1.5.2013 abgelehnt hat, in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 27.6.2013 (§ 86 SGG) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.10.2013. Hiergegen wendet sich die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG). Mit den Bescheiden vom 29.4.2013 und 27.6.2013 hat die Beklagte erstmals endgültig über Ansprüche der Klägerin für den Monat Mai entschieden (zur Leistungsablehnung als endgültige Entscheidung vgl zB Bundessozialgericht BSG> Urteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 13/07 R - juris, RdNr 11), ohne einen zuvor erlassenen Bewilligungsbescheid abzuändern. Mit dem Bescheid vom 27.3.2013 hat die Beklagte der Klägerin nach dem objektiven Empfängerhorizont (zu diesem Maßstab bei der Auslegung von Verwaltungsakten vgl zB BSG Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 33/07 R - SozR 4-1500 § 77 Nr 1 RdNr 15 und BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R - SozR 4-5910 § 92c Nr 1 RdNr 14) nur für April 2013 Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt. Dies ergibt sich aus dem Verfügungssatz (§ 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz SGB X>: "Bewilligung (von - bis) APRIL 2013") und dessen Begründung (§ 35 Abs 1 Satz 2 SGB X: "Dieser Bescheid regelt das Leistungsverhältnis nur für oben genannte Bewilligungszeiträume." und "Für APRIL 2013 ergeben sich lt. nachstehender Berechnung, die Bestandteil dieses Bescheides ist, folgende Beträge:").

In der Sache ist Gegenstand des Revisionsverfahrens höhere Hilfe zum Lebensunterhalt für den Monat Mai 2013 ohne Beschränkung auf die Regelsatzleistung, wie das LSG meint. Der Kreis L hat der Klägerin unter teilweiser Abhilfe des Widerspruchs (§ 85 Abs 1 SGG) Leistungen unter Berücksichtigung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung für den gesamten Monat Mai 2013 bewilligt. Hiergegen hat sich die Klägerin gewandt und im Klageverfahren ohne Beschränkung auf den Regelsatz die Verurteilung der Beklagten zu weiteren Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 254,67 Euro beantragt. Die Beklagte ist hierzu verurteilt worden. Für eine Beschränkung der Klage im Berufungsverfahren bestand kein Anlass und ist auch nichts ersichtlich. Das LSG wird deshalb Leistungen nach dem SGB XII in vollem Umfang (etwa auch die Einkommensanrechnung sowie die Kosten von Unterkunft und Heizung) zu überprüfen haben.

Einer Sachentscheidung des Senats stehen keine von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernisse oder gerügte Verfahrensmängel entgegen. Insbesondere ist für den Fall, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum erwerbsfähig war, weder von Amts wegen zu prüfen noch gerügt worden, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG (unechte notwendige Beiladung) beizuladen war (BSGE 112, 188 = SozR 4-3500 § 49 Nr 1, RdNr 12; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 75 RdNr 13b mwN).

Kommen als Leistungen nach dem SGB XII ausschließlich Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Betracht, hat das LSG - unterstellt, die Höhe der Leistungen für den Monat Mai ist im Übrigen zutreffend berechnet - im Ergebnis zu Recht die Auffassung vertreten, dass der Klägerin für die Zeit ihres Auslandsaufenthalts vom 1. bis 22.5.2013 jedenfalls keine Regelsatzleistung zusteht und deshalb das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit nach einem mehr als vier Wochen ununterbrochen andauernden Auslandsaufenthalt keinen Anspruch auf Gewährung eines anteiligen Regelsatzes als Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Senat kann aber mangels hinreichender Feststellungen des LSG zur Erwerbsminderung (auf Dauer) / Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht abschließend entscheiden, ob für den streitigen Zeitraum ggf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung oder im Falle der Erwerbsfähigkeit der Klägerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) gegen den zuständigen SGB-II-Leistungsträger nach dessen Beiladung im wiedereröffneten Berufungsverfahren (§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG) in Betracht kommen.

Die Beklagte ist als (durch den Kreis herangezogener) örtlicher Träger der Sozialhilfe sachlich zuständiger Leistungsträger. Nach § 97 Abs 1 SGB XII ist für die Sozialhilfe sachlich zuständig der örtliche Träger der Sozialhilfe, soweit nicht der überörtliche Träger sachlich zuständig ist. Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe wird nach Landesrecht bestimmt (§ 97 Abs 2 Satz 1 SGB XII, hier § 2 Landesausführungsgesetz zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen AG-SGB XII NRW> vom 16.12.2004, GV NRW 816 iVm § 2 Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes NRW AV-SGB XII NRW> vom 16.12.2004, GVBl NRW 816, idF der Ersten Verordnung zur Änderung der AV-SGB XII NRW vom 11.5.2009, GV NRW 299). Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe für Leistungen nach dem Dritten (und Vierten) Kapitel des SGB XII ist danach nicht vorgesehen (zur Befugnis des Senats zur eigenständigen Anwendung und Auslegung des Landesrechts BSGE 104, 219 = SozR 4-3500 § 74 Nr 1, RdNr 12). Örtlich zuständiger Träger ist der Kreis L , der der Beklagten seine Aufgaben als örtlicher Träger der Sozialhilfe zur Wahrnehmung...

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