Urteil vom 03. März 2009 - 2 BvC 3/07
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2009:cs20090303.2bvc000307 |
Date | 03 Marzo 2009 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 03. März 2009 - 2 BvC 3/07 - Rn. (1-163), |
Judgement Number | 2 BvC 3/07 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Urteil des Zweiten Senats vom 3. März 2009
- 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07 -
- Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen
- Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte müssen die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvC 3/07 -
- 2 BvC 4/07 -
am 3. März 2009
Herr
Regierungsangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
über
die Wahlprüfungsbeschwerden
I. | des Herrn Dr. W… |
- Prof. Dr. Ulrich Karpen,
Universität Hamburg, Schlüterstraße 28, 20146 Hamburg, - Rechtsanwälte Dr. Till Jaeger, Dr. Martin Jaschinski,
Sebastian Biere, Oliver Brexl,
Christinenstraße 18/19, 10119 Berlin -
gegen | den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 14. Dezember 2006 - WP 145/05 - (BTDrucks 16/3600) |
- 2 BvC 3/07 -,
II. | des Herrn Prof. Dr. W… |
Hobsweg 15, 53125 Bonn -
gegen | den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 14. Dezember 2006 - WP 108/05 - (BTDrucks 16/3600) |
- 2 BvC 4/07 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Voßkuhle,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2008 durch
für Recht erkannt:
- Die Verordnung über den Einsatz von Wahlgeräten bei Wahlen zum Deutschen Bundestag und der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Bundeswahlgeräteverordnung - BWahlGV) vom 3. September 1975 (Bundesgesetzblatt I Seite 2459) in der Fassung der Verordnung zur Änderung der Bundeswahlgeräteverordnung und der Europawahlordnung vom 20. April 1999 (Bundesgesetzblatt I Seite 749) ist mit Artikel 38 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar, als sie keine dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl entsprechende Kontrolle sicherstellt.
- Die Verwendung der elektronischen Wahlgeräte der N.V. Nederlandsche Apparatenfabriek (Nedap) vom Typ ESD1 Hardware-Versionen 01.02, 01.03 und 01.04 sowie vom Typ ESD2 Hardware-Version 01.01 bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag war mit Artikel 38 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes nicht vereinbar.
- Im Übrigen werden die Wahlprüfungsbeschwerden zurückgewiesen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat die notwendigen Auslagen dieses Verfahrens dem Beschwerdeführer zu 1. vollumfänglich und dem Beschwerdeführer zu 2. zu drei Viertel zu erstatten.
Die Wahlprüfungsbeschwerden betreffen die Zulässigkeit des Einsatzes rechnergesteuerter Wahlgeräte, die auch als elektronische Wahlgeräte oder „Wahlcomputer“ bezeichnet werden, bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag.
I.
1. Bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag gaben etwa zwei Millionen Wahlberechtigte in Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ihre Stimmen über rechnergesteuerte Wahlgeräte ab, die von der niederländischen Firma Nedap hergestellt und in Deutschland seit 1999 als zentraler Bestandteil des „Integralen Wahlsystems“ (IWS) von der Firma H. GmbH vertrieben werden. Die Bezeichnungen der Bauarten dieser Wahlgeräte setzen sich zusammen aus einem Namen für die Gerätegeneration (ESD1 oder ESD2) sowie jeweils einer Versionsnummer für die Hardware (HW) und die Software (SW). Bei Wahlen zum Deutschen Bundestag sind bislang die Bauarten ESD1 (HW 1.02; SW 2.02), ESD1 (HW 1.02; SW 2.07), ESD1 (HW 1.03; SW 3.08), ESD1 (HW 1.04; SW 3.08) und ESD2 (HW 1.01; SW 3.08) eingesetzt worden.
Diese Wahlgeräte werden über einen Mikroprozessor und ein Softwareprogramm gesteuert. Die abgegebenen Stimmen werden ausschließlich auf einem elektronischen Speicher abgelegt und am Ende des Wahltages durch das Wahlgerät elektronisch ausgezählt. Nach der elektronischen Ergebnisermittlung zeigt das Wahlgerät die für die jeweiligen Wahlvorschläge insgesamt abgegebenen Stimmen an; die Ergebnisse können über einen im Wahlgerät integrierten Drucker ausgedruckt werden. Das Softwareprogramm, das die Registrierung der Stimmabgabe und die Ergebnisermittlung steuert, befindet sich auf zwei elektronischen Speicherbausteinen (sogenannten EPROMs; EPROM = Erasable Programmable Read-Only-Memory), die unter einer verschraubten Abdeckung in das Gerät eingebaut sind und durch zwei vom Hersteller angebrachte Siegel gesichert werden. Die an dem Wahlgerät abgegebenen Stimmen - einschließlich der Koppelungen (Erststimme und zugehörige Zweitstimme) - werden auf einer herausnehmbaren kassettenförmigen Speichereinheit - dem sogenannten Stimmspeichermodul, auch als „elektronische Urne“ bezeichnet (vgl. Schönau, Elektronische Demokratie, 2007, S. 53) - abgelegt. Auf dem Stimmspeichermodul sind darüber hinaus die Daten der Stimmzettel, die Zuordnung der einzelnen Tasten zu den Wahlvorschlägen sowie Wahldatum und Wahllokal gespeichert.
Die Wahlgeräte weisen ein Tastenfeld auf („Wählertableau“), über das ein Einlegeblatt mit einer dem amtlichen Stimmzettel nachempfundenen Abbildung des Stimmzettels gelegt ist. Oberhalb des Tastenfeldes befindet sich eine Anzeige (LCD-Anzeige), die den Wählenden durch den Wahlvorgang führt und ihm eine Überprüfung seiner Eingaben ermöglicht. Tastenfeld und LCD-Anzeige sind von zwei seitlichen Trennschirmen als Sichtschutz umgeben. An der Rückseite des Wahlgerätes befinden sich der erwähnte Drucker sowie ein Steckplatz für das Stimmspeichermodul. Die Wahlgeräte sind mit einer Bedieneinheit auf dem Tisch des Wahlvorstandes verbunden. Die Bedieneinheit zeigt dem Wahlvorstand die Abgabe der Stimmen durch den jeweiligen Wähler dadurch an, dass sich die Anzeige über die Zahl der Wähler um eins erhöht. Nachdem der Wähler seine Stimmen abgegeben hat, ist das Wahlgerät für weitere Stimmabgaben so lange gesperrt, bis der Wahlvorstand es für den nächsten Wahlberechtigten freischaltet.
Bestandteil des von der Firma H. vertriebenen „Integralen Wahlsystems“ ist ein Programmier- und Auslesegerät, das es der Gemeindebehörde ermöglicht, in Verbindung mit einem Personalcomputer die Stimmspeichermodule vor der Wahl vorzubereiten und nach der Wahl die Stimminformationen aus dem Speichermodul auszulesen und für die weitere Datenverarbeitung zur Verfügung zu stellen. Die Speichermodule können nach Ablauf des Wahltages erneut mit Hilfe eines Wahlgerätes ausgelesen werden. Die Software des „Integralen Wahlsystems“ ermöglicht es auch, an einem Computer die gespeicherten Stimmen als Stimmzettel mit den entsprechenden Kreuzen auszudrucken.
Eine individuelle Identifizierungsnummer des einzelnen Wahlgerätes, ferner die Versionsnummern der Hard- und Software sowie zwei Prüfsummen, die von einem in der Wahlgerätesoftware enthaltenen Prüfsummenalgorithmus gebildet werden, können am Wahlgerät angezeigt und ausgedruckt werden. Diese Daten können mit den Angaben auf dem Typenschild des Wahlgerätes und in der Baugleichheitserklärung verglichen werden.
2. Bereits seit den 1960er Jahren wurde in Deutschland versucht, die mit dem herkömmlichen Wahlvorgang verbundene manuelle Auszählung der Stimmzettel durch rationellere Methoden und den Einsatz von Wahlgeräten zu ersetzen. Nach § 35 Abs. 3 des Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 (BGBl I S. 383 - BWG) konnte der Bundesminister des Innern zulassen, dass anstelle von Stimmzetteln amtlich zugelassene Stimmenzählgeräte verwendet werden. Auf dieser Grundlage wurde die Verordnung über die Verwendung von Stimmenzählgeräten bei Wahlen zum Deutschen Bundestag vom 24. August 1961 (BGBl I S. 1618) erlassen. Durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975 (BGBl I S. 1593) wurde § 35 Abs. 3 BWG aufgehoben und durch eine ausführlichere Regelung über die „Stimmabgabe mit Wahlgeräten“ ersetzt, die sich seit der Bekanntmachung der Neufassung des Bundeswahlgesetzes vom 1. September 1975 (BGBl I S. 2325) in § 35 BWG findet. Die Verordnung über den Einsatz von Wahlgeräten bei Wahlen zum Deutschen Bundestag (Bundeswahlgeräteverordnung - BWahlGV) vom 3. September 1975 (BGBl I S. 2459) sah in § 1 vor, dass mechanisch oder elektrisch betriebene Wahlgeräte bei Wahlen zum Deutschen Bundestag eingesetzt werden durften, wenn ihre Bauart zugelassen und ihre Verwendung genehmigt war.
Auf der Grundlage der Verordnung über die Verwendung von Stimmenzählgeräten vom 24. August 1961 (BGBl I S. 1618) und der Bundeswahlgeräteverordnung vom 3. September 1975 (BGBl I S. 2459) wurden in Deutschland zunächst Wahlgeräte zugelassen und eingesetzt, die auf der Basis (elektro-)mechanischer Zählwerke arbeiteten (vgl. Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 35 Rn. 5). Diese Wahlgeräte arbeiteten mechanisch; durch Betätigung eines Knopfes oder durch Einführung einer Wahlmarke in eine dem jeweiligen Wahlvorschlag zugeordnete Öffnung wurde ein Zählerstand mechanisch erhöht. Sie fanden keine Verbreitung, da den Kosten für Anschaffung, Transport, Lagerung und Wartung der Geräte ein verhältnismäßig geringer Zeitgewinn gegenüberstand und ein Einsatz oft nur bei Wahlen mit einer geringen Anzahl von Wahlvorschlägen möglich war (vgl. BTDrucks 8/94, S. 2)...
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Beschluss vom 21. April 2009 - 2 BvC 2/06
...die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages führen (vgl. BTDrucks 16/7461, S. 19; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 3. März 2009 - 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07 -, DVBl 2009, S. 511 ), sondern auch Manipulationen verhindern (vgl. Seifert, Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, § 63 BWO Nr. 2; Schre......
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Beschluss vom 15. Juni 2009 - 2 BvC 3/07
...- 2 BvC 3/07 - - 2 BvC 4/07 - In den Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerden 1. des Herrn W..., - Prof. Dr. Ulrich Karpen, Universität Hamburg, Schlüterstraße 28, 20146 Hamburg, Rechtsanwälte Dr. Till Jaeger, Dr. Martin Jaschinski, Sebastian Biere, Oliver Brexl, Christinenstraße 18/19, 1......
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