Urteil vom 06.09.2012 - BVerwG 2 WD 26.11

JurisdictionGermany
Judgment Date06 Septiembre 2012
Neutral CitationBVerwG 2 WD 26.11
ECLIDE:BVerwG:2012:060912U2WD26.11.0
CitationBVerwG, Urteil vom 06.09.2012 - 2 WD 26.11
Registration Date15 Mayo 2013
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesWDO § 38 Abs. 1; § 58 Abs. 7,SG §§ 8, 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1
Record Number060912U2WD26.11.0

BVerwG 2 WD 26.11

  • Truppendienstgericht Nord 3. Kammer - 04.07.2011 - AZ: TDG N 3 VL 10/09

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 6. September 2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt,
ehrenamtlicher Richter Oberst Reinelt und
ehrenamtlicher Richter Stabsfeldwebel d.R. Sonnendecker,
Leitender Regierungsdirektor ...
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt ..., ...,
als Pflichtverteidiger,
Geschäftsstellenverwalterin ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 3. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 4. Juli 2011 im Ausspruch über die Disziplinarmaßnahme geändert.
  2. Dem früheren Soldaten wird wegen eines Dienstvergehens und eines als Dienstvergehen geltenden Verhaltens das Ruhegehalt aberkannt.
  3. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem früheren Soldaten auferlegt.
Gründe

S a c h v e r h a l t :

Das Truppendienstgericht hatte festgestellt, dass der frühere Soldat vor seinem Dienstzeitende in einen Landesvorstand der NPD gewählt worden war und für diese weitere herausgehobene Funktionen wahrgenommen hatte. Diese Funktionen habe er bis zum Dienstzeitende inne gehabt. Die NPD sei im gesamten von den Vorwürfen erfassten Zeitraum von einer verfassungsfeindlichen Zielrichtung getragen. Damit habe er eine verfassungsfeindliche Partei aktiv unterstützt und gefördert und so seine Dienstpflicht aus § 8 SG verletzt. Dabei habe er die Verfassungsfeindlichkeit der NPD erkennen können und müssen und damit fahrlässig gehandelt. Nach seinem Dienstzeitende habe er seine Funktionärstätigkeit fortgesetzt und ausgeweitet. Dadurch habe er die NPD und ihre verfassungsfeindlichen Ziele aktiv gefördert und unterstützt und sich damit im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG objektiv gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung betätigt. Dies sei anfangs fahrlässig, später aber bedingt vorsätzlich geschehen. Die Truppendienstkammer hat daher wegen eines Dienstvergehens und eines als Dienstvergehen geltenden Verhaltens eine Dienstgradherabsetzung verhängt.

Die auf die Maßnahmebemessung beschränkte Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft hatte Erfolg.

34 2. a) Von der Beschränkung der Berufung unberührt bleiben die Prüfung der Prozessvoraussetzungen und möglicher Verfahrenshindernisse (Dau, WDO, 5. Auflage 2009, § 116 Rn. 20). Ein Verfahrenshindernis liegt hier nicht in der den Anforderungen des Art. 6 EMRK nicht mehr genügenden Länge des Verfahrens:

35 aa) Das Wehrdisziplinarverfahren steht nicht außerhalb des Anwendungsbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK (so bereits EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976 - Engel u.a. - EuGRZ 1976, 221 ). Die EMRK gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts - auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien - zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BVR 1481/04 - BVerfGE 111, 307 und juris Rn. 30). Selbst wenn ein auf die Verhängung der Höchstmaßnahme gerichtetes Disziplinarverfahren keine Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage darstellt, gilt dort Art. 6 EMRK jedenfalls unter seinem zivilrechtlichen Aspekt und gibt Betroffenen einen Anspruch darauf, dass über die Streitigkeit innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04 (Bayer/Deutschland) - NVwZ 2010, 1015 ).

36 bb) Ob die Dauer eines konkreten Verfahrens noch angemessen ist, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Falls und folgender Kriterien zu beurteilen: die Schwierigkeit des Falls, das Verhalten des Betroffenen und das der zuständigen Behörden und Gerichte sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen (EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04 - NVwZ 2010, 1015 m.w.N.).

37 Hiernach rechtfertigen weder die hohe Komplexität der Vorfrage nach der Verfassungsfeindlichkeit der NPD noch die Vorgreiflichkeit des teilweise sachgleichen Strafverfahrens die Gesamtdauer des vorliegenden Verfahrens. Schon das Strafverfahren ist nicht mit der gebotenen Beschleunigung bearbeitet worden. Die Anfang August 2003 beim Amtsgericht ... eingegangene Anklageschrift konnte dort erst Ende Mai 2005 in Bearbeitung genommen werden. Über die Berufung gegen das erstinstanzliche Strafurteil vom Juli 2005 konnte wegen der hohen Belastung der zuständigen Kammer erst im März 2007 verhandelt und entschieden werden. Auch im gerichtlichen Disziplinarverfahren ist es zu nicht mehr durch einen normalen Geschäftsablauf veranlassten Verzögerungen gekommen. Obwohl seit Ende Mai 2007 bekannt war, dass mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens der Grund für die Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens entfallen war, ist erst Mitte März 2009 eine Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht eingereicht worden. Diese Verzögerung ist nicht in voller Länge durch die Komplexität der aufgeworfenen Rechtsfrage, den notwendigen Umfang der Anschuldigungsschrift und die Notwendigkeit der Gewährung von Schlussgehör gerechtfertigt. Nicht durch den früheren Soldaten zu verantworten waren auch die Verzögerungen, die sich durch die durch Versäumnisse der Wehrdisziplinaranwaltschaft im Ermittlungsverfahren und bei der Formulierung der Anschuldigungsschrift veranlasste Aussetzung des Verfahrens durch das Truppendienstgericht im Mai 2009 ergaben. In der Zeit zwischen dem Eingang der Nachtragsanschuldigungsschrift vom 24. Juli 2009 und der Verzögerungsrüge des früheren Soldaten Ende Januar 2011 ist das Verfahren beim Truppendienstgericht nicht erkennbar gefördert worden. Auch die Dauer des Berufungsverfahrens war wesentlich nicht durch den früheren Soldaten zu verantworten, vielmehr der Belastung des Senats mit noch älteren Verfahren geschuldet.

38 cc) Dass die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegend nicht gewahrt wurden, verlangt aber keine Einstellung des Verfahrens.

39 Eine Einstellung entsprechend § 108 Abs. 3 Satz 2 WDO kann geboten sein, wenn wegen eines Dienstvergehens eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme im Raum steht. Denn bei solchen Maßnahmen bildet eine unangemessen lange Verfahrensdauer einen Milderungsgrund (vgl. Urteile vom 17. Juni 2003 - BVerwG 2 WD 2.02 - NZWehrr 2004, 83 ff. und juris Rn. 18; vom 26. September 2006 - BVerwG 2 WD 2.06 - BVerwGE 127, 1 ; vom 13. März 2008 - BVerwG 2 WD 6.07 - juris Rn. 116; vom 22. Oktober 2008 - BVerwG 2 WD 1.08 - juris Rn. 122 und vom 4. Mai 2011 - BVerwG 2 WD 2.10 - Buchholz 450.2 § 58 WDO 2002 Nr. 5 Rn. 47, vgl. auch Beschluss vom 11. Mai 2010 - BVerwG 2 B 5.10 - juris Rn. 3 für das Disziplinarrecht der Beamten m.w.N.).

40 In extrem gelagerten Fällen kann wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses eine Einstellung in Betracht kommen, wenn unter Berücksichtigung des bisherigen und des noch zu erwartenden Verfahrensverlaufs, des noch im Raum stehenden Vorwurfs und gegebenenfalls besonderer persönlicher Umstände des Beschuldigten dessen weitere Belastung mit dem Verfahren selbst unter der Voraussetzung, dass sich die Tatvorwürfe später bestätigen, nicht mehr verhältnismäßig wäre (BVerfG, Beschluss vom 4. September 2009 - 2 BvR 1089/09 - juris Rn. 6 für das Strafverfahren). Eine Verfahrenseinstellung kommt jedenfalls bei einem außergewöhnlich großen Ausmaß an Verfahrensverzögerung und damit verbundenen besonders schweren Belastungen des Beschuldigten in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 7. Dezember 2009 - StbSt (R) 2/09 - NJW 2010, 1155 = juris Rn. 15 für das berufsrechtliche Verfahren gegen Steuerberater).

41 Anders ist dies aber, wenn - wie hier - die Verhängung der Höchstmaßnahme geboten ist. Diese hat keinen pflichtenmahnenden Charakter. Sie zieht vielmehr die Konsequenz aus dem Verlust des Vertrauens des Dienstherrn in die Integrität und Zuverlässigkeit des Soldaten und dem Entfallen der Grundlage für die Fortsetzung des gegenseitigen Dienst- und Treueverhältnisses. Der Zweck der Verhängung der Höchstmaßnahme kann nicht durch eine besonders intensiv wirkende Belastung durch das Verfahren als solches erreicht werden. Ihre Verhängung kann daher auch nicht neben der pflichtenmahnenden Wirkung des Verfahrens unverhältnismäßig sein. Hinzu kommt noch, dass hier weder die Überschreitung der im Lichte des Art. 6 Abs. 1 EMRK angemessenen Verfahrensdauer extrem hoch ist noch damit besonders schwere Belastungen für den früheren Soldaten, der bis Ende September 2006 Übergangsgebührnisse bezogen und das Ende seiner Dienstzeit ohnehin erreicht hatte, verbunden sind.

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