Urteil vom 13.10.2020 - BVerwG 2 C 41.18

JurisdictionGermany
Judgment Date13 Octubre 2020
Neutral CitationBVerwG 2 C 41.18
ECLIDE:BVerwG:2020:131020U2C41.18.0
Applied RulesBDG § 16,GRCh Art. 11,BBG § 106 Abs. 1 Satz 4, Abs. 3, § 111 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 2,BZRG § 51,IFG § 5 Abs. 2,GG Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 2,EMRK Art. 10
Registration Date14 Enero 2021
Record Number131020U2C41.18.0
Subject MatterAllgemeines Beamtenrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
CitationBVerwG, Urteil vom 13.10.2020 - 2 C 41.18

BVerwG 2 C 41.18

  • VG Köln - 12.11.2015 - AZ: VG 6 K 5143/14
  • OVG Münster - 20.09.2018 - AZ: OVG 15 A 3070/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden, Dr. Hartung
und Dollinger sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hampel
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Beklagten wird die Klage auch hinsichtlich der beantragten Auskunft zu Frage 9 Satz 1 abgewiesen. Die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. September 2018 und des Verwaltungsgerichts Köln vom 12. November 2015 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.
  2. Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
  3. Die Anschlussrevision des Klägers wird zurückgewiesen.
  4. Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen der Kläger zu 3/5 und die Beklagte zu 2/5.
Gründe I

1 Der Kläger ist freier Journalist. Er begehrt vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Auskunft zu dem Disziplinarverfahren gegen einen ehemaligen Referatsleiter mit dem Tarnnamen "Lothar Lingen", der nach Bekanntwerden der rechtsterroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) die Vernichtung von Akten angeordnet haben soll. Das BfV lehnte es unter dem 29. August 2014 ab, Auskünfte zu Disziplinarvorgängen zu erteilen.

2 Mit der im September 2014 erhobenen Klage hat der Kläger Auskunft zu folgenden Fragen begehrt: 1. Wie ist der Sachstand des Disziplinarverfahrens in Sachen des Beamten mit dem Decknamen "Lothar Lingen"? Ist das Disziplinarverfahren abgeschlossen? Mit welchen Konsequenzen? 2. Welche Informationen zu dem Ablauf der erfolgten Aktenvernichtungen sowie zur Motivation des Mitarbeiters "Lothar Lingen", die der Öffentlichkeit bisher nicht durch die Veröffentlichung des Abschlussberichtes des 2. Untersuchungsausschusses des Bundestags, Drs. 17/14600, Seiten 743 ff. bekannt sind, wurden im Zuge des Disziplinarverfahrens ermittelt? 3. Welches Fehlverhalten wurde dem Mitarbeiter, gegen den im Zuge des Disziplinarverfahrens ermittelt wurde, genau vorgeworfen? 4. Wie genau sahen die Bemühungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus, das Fehlverhalten aufzuklären? Welchen Umfang und welche Dauer hatten die Aufklärungsbemühungen? Wie viele Personen wurden im Rahmen dieses Verfahrens befragt? Wie viele Seiten umfasst die Ermittlungsakte im Disziplinarverfahren? 5. Wurden Erklärungen dafür gefunden, warum der Mitarbeiter einerseits von Vorgesetzten mit sehr guten Noten beurteilt wurde, andererseits aber gleichzeitig eine Anleitungs- und Kontrollbedürftigkeit durch Vorgesetzte bestand (der diese aber wohl nicht nachkamen und die sich ja schließlich auch in dem schwerwiegenden Fehlverhalten des Mitarbeiters zeigte)? Wenn ja, welche Erklärungen wurden gefunden? Wann genau war der Mitarbeiter "Lothar Lingen" wie von seinen Vorgesetzten bewertet worden? Wie waren die einstigen Positivbewertungen begründet worden? 6. Welche Einschätzungen über die mögliche Motivation der Aktenvernichtung durch den Mitarbeiter mit dem Decknamen "Lothar Lingen" wurden während der im Rahmen des Disziplinarverfahrens durchgeführten Vernehmungen von anderen Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz geäußert? 7. Wurde ermittelt, ob der Mitarbeiter "Lothar Lingen" mit den von ihm vernichteten Vorgängen in den Jahren zuvor selbst dienstlich befasst gewesen ist? Falls ja, für welche Vorgänge trifft dies zu und wie sah die Befassung aus? 8. Welche Ergebnisse haben die Ermittlungen im Rahmen des Disziplinarverfahrens hinsichtlich der Frage ergeben, ob der betreffende Mitarbeiter die Aktenvernichtungen in eigener Zuständigkeit und ohne Rücksprache mit anderen Mitarbeitern, insbesondere ohne Information seines direkten Vorgesetzten durchgeführt hat? 9. Inwieweit wurde zur Aufklärung des Fehlverhaltens auch außerhalb des Bundesamtes für Verfassungsschutz ermittelt? Wurden beispielsweise außenstehende Zeugen vernommen?

3 Das Verwaltungsgericht hat der Klage hinsichtlich der Fragen 1, 3, 4, 6, der Frage 7 Satz 1 sowie der Fragen 8 und 9 stattgegeben; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

4 Das Oberverwaltungsgericht hat das Verfahren eingestellt und das erstinstanzliche Urteil für wirkungslos erklärt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Frage 1 Satz 1 und 2 für erledigt erklärt haben, sowie das erstinstanzliche Urteil geändert und die Beklagte verurteilt, Auskunft auf die Frage 4 Satz 2 Halbs. 2, Satz 3 und 4 sowie auf die Frage 7 Satz 1, Fragen 8 und 9 zu erteilen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Auskunftsanspruch bestehe nur im tenorierten Umfang auf der Grundlage des Personalaktenrechts. Die danach erforderliche Interessenabwägung zwischen dem informationellen Selbstbestimmungsrecht des betroffenen Beamten und dem Informationsinteresse der Presse falle zugunsten der Presse aus. Das disziplinarrechtliche Verwertungsverbot und die damit verbundene Pflicht zur Vernichtung der Disziplinarakten stünden dem Auskunftsanspruch nicht entgegen. Aus den disziplinarrechtlichen Tilgungsbestimmungen, die in erster Linie im Innenverhältnis des Beamten zu seinem Dienstherrn bestünden, folge unmittelbar nichts für den Auskunftsanspruch nach dem Personalaktenrecht. Durch das Auskunftsersuchen entstehe ein gegenüber dem Dienstverhältnis eigenständiges Rechtsverhältnis. Keine andere Beurteilung ergebe sich aus etwaigen weiteren Schutzwirkungen der Tilgungsbestimmungen. Angesichts der öffentlichen Berichterstattung und der Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse des Bundestages sei nicht erkennbar, dass die Erinnerung des Dienstherrn an das Disziplinarverfahren durch die begehrte Auskunft in maßgeblicher Weise noch reaktualisiert werden könnte. Im Übrigen bleibe die Klage ohne Erfolg. Die verbleibenden Fragen seien nicht hinreichend konkret bezeichnet, durch öffentlich zugängliche Quellen bereits beantwortet oder aufgrund ihres spekulativen Charakters wegen des vorrangigen Persönlichkeitsschutzes nicht zu beantworten.

5 Hiergegen wendet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. September 2018 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 12. November 2015 teilweise zu ändern und die Klage, soweit sie noch anhängig ist, abzuweisen.

6 Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

7 Ferner beantragt er im Wege der Anschlussrevision, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. September 2018 teilweise zu ändern und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, soweit es um die Auskunft zu den Fragen 3, 4 Satz 1 und 2 Halbs. 1 und Frage 6 geht und soweit das Verfahren nicht eingestellt wurde.

8 Die Beklagte beantragt, die Anschlussrevision des Klägers zurückzuweisen.

II

9 Die Revision der Beklagten ist begründet, soweit sie die Auskunft auf Frage 9 Satz 1 betrifft. Insoweit verletzt das Berufungsurteil Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO); die Urteile der Vorinstanzen sind insoweit aufzuheben und die Klage des Klägers ist auch insoweit abzuweisen. Im Übrigen ist die Revision der Beklagten unbegründet. Die Anschlussrevision des Klägers ist unbegründet.

10 Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Auskunftsanspruch seine Rechtsgrundlage im Personalaktenrecht findet (1.). Bei der Prüfung des Auskunftsanspruchs legt das Oberverwaltungsgericht zwar entscheidungstragend ein bundesrechtswidriges Verständnis des § 16 des Bundesdisziplinargesetzes (BDG) in der Fassung des Art. 12b des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes (DNeuG) vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160) zu Grunde (2.). Die Entscheidung stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO), soweit sie die zuerkannten Auskünfte auf die Frage 4 Satz 2 Halbs. 2, Satz 3 und 4 sowie auf die Frage 7 Satz 1, Fragen 8 und 9 Satz 2 betrifft (3.). Für die beantragte Auskunft auf Frage 9 Satz 1 gilt dies nicht (4.). Weitergehende Ansprüche bestehen nicht (5.).

11 1. Anspruchsgrundlage für die vom Kläger geltend gemachten Auskünfte ist § 111 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) in der im Fall der Leistungsklage maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gültigen Fassung des Art. 11 Nr. 2 des Zweiten Gesetzes zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Zweites Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU - 2. DSAnpUG-EU) vom 20. November 2019 (BGBl. S. 1626). Änderungen der Rechtslage im Revisionsverfahren, die sich nach Erlass des Berufungsurteils ergeben haben, sind für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beachtlich, wenn das Berufungsgericht, entschiede es nunmehr anstelle des Bundesverwaltungsgerichts, die Rechtsänderung zu beachten hätte (BVerwG, Urteile vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 und vom 23. Oktober 2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 Rn. 40). Müsste das Berufungsgericht nunmehr entscheiden, hätte es seinem Urteil die jetzt geltende Regelung des § 111 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BBG zugrunde zu legen. Hiergegen bestehen im Hinblick auf das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot keine Bedenken. § 111 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BBG wurde gegenüber der zuvor (im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts) geltenden...

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