Urteil vom 15.06.2023 - BVerwG 1 C 10.22

JurisdictionGermany
Judgment Date15 Junio 2023
Neutral CitationBVerwG 1 C 10.22
ECLIDE:BVerwG:2023:150623U1C10.22.0
Record Number150623U1C10.22.0
CitationBVerwG, Urteil vom 15.06.2023 - 1 C 10.22 -
Registration Date25 Septiembre 2023
Subject MatterAusländerrecht
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Applied RulesGG Art. 13 Abs. 1, 2 und 7,VwGO § 43 Abs. 1,AufenthG § 58,AsylG § 47 Abs. 1,FlüAG BW §§ 6, 9,VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 27, 29,RL 2013/33/EU Art. 7, 18

BVerwG 1 C 10.22

  • VG Stuttgart - 18.02.2021 - AZ: 1 K 9602/18
  • VGH Mannheim - 28.03.2022 - AZ: 1 S 1265/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß, Dollinger
und Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 28. März 2022 wird zurückgewiesen
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Gründe I

1 Der nach seinen Angaben 1989 geborene Kläger ist Staatsangehöriger Kameruns. Er reiste nach einem Voraufenthalt in Italien im Dezember 2017 nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Daraufhin wurde er der vom Beklagten betriebenen Landeserstaufnahmeeinrichtung in ... zugewiesen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 14. März 2018 als unzulässig ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten fest und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Unter dem 11. April 2018 teilte das Bundesamt der Landeserstaufnahmeeinrichtung mit, Italien habe einer Überstellung des Klägers zugestimmt, die montags bis freitags mit einer Ankunftszeit zwischen 8.00 Uhr und 14.00 Uhr auf dem Luftweg zu erfolgen habe.

2 Die Überstellung des Klägers wurde am 20. Juni 2018 durchgeführt. Die Maßnahme begann um 4.00 Uhr morgens. Zwei Polizeivollzugsbeamte begaben sich zunächst zu dem dem Kläger zur Mitnutzung zugewiesenen Zimmer in der Einrichtung, wo sich der Kläger aber nicht aufhielt. Die Beamten trafen den Kläger sodann in den öffentlich zugänglichen Bereichen bei den Sanitäranlagen an. Sie erfragten seinen Namen und begleiteten ihn in das Zimmer. Dort händigte der Kläger den Beamten seinen Ausweis aus und packte seine persönlichen Gegenstände. Im Folgenden wurde der Kläger aus der Einrichtung zum Flughafen ... und dort in das um 10.50 Uhr nach Italien abfliegende Flugzeug verbracht.

3 Mit der Klage hat der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit mehrerer seitens des Beklagten ihm gegenüber durchgeführter Maßnahmen begehrt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, soweit sie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Betretens des Zimmers am 20. Juni 2018 gerichtet gewesen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung hiergegen zurückgewiesen. Das Betreten des Zimmers des Klägers sei nach § 6 Abs. 1 und 2 LVwVG BW ohne vorherige richterliche Anordnung zulässig gewesen. Das dem Kläger zugewiesene Zimmer sei eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG. Die Polizeivollzugsbeamten hätten dieses Zimmer jedoch nicht durchsucht. Das Betreten des Zimmers habe den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine solche Maßnahme genügt.

4 Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das Betreten des Zimmers stelle eine Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG dar und sei daher ohne vorherige richterliche Anordnung nicht zulässig gewesen. Selbst wenn man eine Durchsuchung verneine, habe die Maßnahme gegen Art. 13 Abs. 1 GG verstoßen.

5 Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.

6 Die Vertreterin des Bundesinteresses unterstützt die Rechtsauffassung des Beklagten.

II

7 Die zulässige Revision ist nicht begründet. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die angegriffene Maßnahme sei rechtmäßig gewesen, steht im Ergebnis im Einklang mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO).

8 1. Dem Berufungsurteil liegt die Auffassung zugrunde, die seitens der Bediensteten des Beklagten am 20. Juni 2018 durchgeführten Maßnahmen fänden ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 Satz 1 des Landesverwaltungsvollstreckungsgesetzes (LVwVG BW) vom 12. März 1974 (GBl. 1974, 93) in der seit dem 23. Februar 2017 unveränderten Fassung (GBl. S. 99, 100). Dabei komme es nicht darauf an, ob sich eine weitere Person, der das Zimmer ebenfalls zur Mitnutzung zugewiesen gewesen sei, in dem Zimmer aufgehalten habe. Die Maßnahmen seien auch dann von § 6 Abs. 1 Satz 1 LVwVG BW gedeckt, wenn weitere Personen Mitbesitz an dem Zimmer gehabt hätten, deren Einwilligung nicht erforderlich gewesen sei. An diese Anwendung und Auslegung des irrevisiblen Landesrechts ist das Revisionsgericht gebunden (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO).

9 2. Ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Berufungsgericht dabei angenommen, dass es sich bei dem Zimmer, das dem Kläger in der Aufnahmeeinrichtung zugewiesen war, um eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG handelte (a). Die getroffenen Maßnahmen stellten aber keine Durchsuchung dieser Wohnung dar, sodass eine vorherige richterliche Anordnung (Art. 13 Abs. 2 GG) nicht erforderlich war (b). Das im Streit stehende Vorgehen der Bediensteten des Beklagten war nach Art. 13 Abs. 7 GG verfassungsrechtlich zulässig (c).

10 a) Bei dem von dem Kläger am 20. Juni 2018 mitgenutzten Zimmer in der Aufnahmeeinrichtung ... handelt es sich um eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG.

11 aa) Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird den Einzelnen im Hinblick auf ihre Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In ihren Wohnräumen haben die Einzelnen das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Art. 13 Abs. 1 GG gewährt ein Abwehrrecht zum Schutz der räumlichen Privatsphäre und soll Störungen vom privaten Leben fernhalten (BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 2022 - 1 BvR 1345/21 - juris Rn. 130). Das Grundrecht schützt den räumlich-gegenständlichen Bereich der Privatsphäre und gewährt einen absoluten Schutz des Verhaltens in den Wohnräumen, soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt. Für diese benötigt jeder Mensch ein räumliches Substrat, in dem er für sich sein und sich nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten, also die Wohnung bei Bedarf als "letztes Refugium" zur Wahrung seiner Menschenwürde nutzen kann (BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12 - BVerfGE 156, 63 Rn. 228). Der Begriff der Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG ist daher weit auszulegen (BVerwG, Urteil vom 25. August 2004 - 6 C 26.03 - BVerwGE 121, 345 ; vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1971 - 1 BvR 280/66 - BVerfGE 32, 54 ).

12 bb) Wer Träger des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG ist, entscheidet sich nicht nach der Eigentumslage, sondern grundsätzlich danach, wer Nutzungsberechtigter der im jeweiligen Einzelfall betroffenen Wohnung ist (BVerfG...

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