Urteil vom 19. Dezember 2023 - 2 BvC 4/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:cs20231219.2bvc000423 |
Judgement Number | 2 BvC 4/23 |
Date | 19 Diciembre 2023 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2023 - 2 BvC 4/23 -, Rn. 1-310, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2023
- 2 BvC 4/23 -
Bundestagswahl Berlin - Wahlprüfung
- Hat der Deutsche Bundestag gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG von weiteren Ermittlungen abgesehen, besteht für das Bundesverfassungsgericht weder die Veranlassung noch die Befugnis, weitergehende Ermittlungen anzustellen. Nur wenn sich die Beweiserhebung des Deutschen Bundestages als lückenhaft oder in sonstiger Weise als unzureichend erweist, kann das Bundesverfassungsgericht insoweit tätig werden
- a) Eine Wartezeit vor der Stimmabgabe ist als solche kein Wahlfehler. Treten ungewöhnlich lange Wartezeiten auf, kann dies allerdings ein Indiz dafür sein, dass die zuständigen Behörden oder Wahlorgane bei der Vorbereitung der Wahl das Gebot, die Stimmabgabe möglichst zu erleichtern (§ 46 Abs. 1 Satz 3 BWahlO), unzureichend beachtet haben
- b) Die Stimmabgabe nach Ende der Wahlzeit gemäß § 60 Satz 2 BWahlO stellt keinen Wahlfehler dar. Dies schließt nicht aus, dass dem Überschreiten des Endes der Wahlzeit indizielle Wirkung hinsichtlich des Vorliegens sonstiger Wahlfehler zukommen kann.
- Unabhängig von der Schwere des Wahlfehlers ist Mandatsrelevanz nur gegeben wenn sich eine Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung als eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit darstellt. Hierbei ist das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung des Wahlergebnisses, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen
- Nach dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs hat eine nur teilweise Wiederholung der Wahl Vorrang vor der Ungültigerklärung der Wahl in Gänze.
- Bei der Wiederholung der Wahl ist nicht zwischen Erst- und Zweitstimme zu unterscheiden. Die Wiederholungswahl findet als Zweistimmenwahl statt.
Verkündet
am 19. Dezember 2023
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvC 4/23 -
Bundestagswahl Berlin – Wahlprüfung
über
die Wahlprüfungsbeschwerde
der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Justiziar Ansgar Heveling, MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022, mit dem die dritte Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen anlässlich der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 – Drucksache 20/4000 – angenommen wurde, |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Müller,
Kessal-Wulf,
Langenfeld,
Wallrabenstein,
Fetzer,
Offenloch
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juli 2023 durch
- Urteil
für Recht erkannt:
-
Über die im Beschluss des Deutschen Bundestages vom
10. November 2022 genannten Wahlbezirke hinaus wird die
Abgabe beider Stimmen für die Wahl zum 20. Deutschen
Bundestag vom 26. September 2021 in den folgenden
Wahlbezirken für ungültig erklärt:
Wahlkreis
Wahlbezirke
75
01101, 01102, 01106, 01108, 01314, 01315, 01402, 01405, 011B, 011E, 013G, 014B
76
03111, 03112, 03113, 03114, 03406, 031I, 031K, 034I
79
06407, 064G
80
04304, 04327, 04505, 04518, 04722, 043D, 045E, 047V
81
07117, 07122, 07124, 07214, 07419, 07522, 071R, 071S, 071U, 072L, 074N, 075P
82
08609, 086H
84
09623, 09624, 09625, 09626, 096L, 096M
85
10530, 105ZH
Die Wahl ist dort nach Maßgabe des Beschlusses des Deutschen
Bundestages vom 10. November 2022 zu wiederholen.
-
Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022 wird insoweit aufgehoben, als die Wahl in folgenden Wahlbezirken des Wahlkreises 75 für ungültig erklärt wurde:
Wahlkreis
Wahlbezirke
75
01118, 01120, 01317, 01318, 01319,
01 719, 01722, 011K, 013I, 017K
- Im Übrigen wird die Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen.
A.
Die Beschwerdeführerin, eine Fraktion des 20. Deutschen Bundestages, wendet sich mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022, mit dem dieser die Abgabe beider Stimmen für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 in 431 Wahlbezirken des Landes Berlin für ungültig erklärt und insoweit eine Wiederholungswahl mit Erst- und Zweitstimme angeordnet hat.
I.
1. Am 26. September 2021 fand in Berlin die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. Zugleich wurden dort die Wahlen zum 19. Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen abgehalten sowie über den Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ abgestimmt.
a) Die Wahlberechtigten konnten je nach Staatsangehörigkeit, Zeitpunkt der Wohnsitznahme in Berlin und Lebensalter bis zu sechs Stimmen auf fünf Stimmzetteln abgeben. Bei der Bundestagswahl waren 2.468.919 Personen wahlberechtigt. In den zwölf Wahlkreisen waren insgesamt 2.256 Wahlbezirke eingerichtet. Diesen waren 1.507 Briefwahlbezirke zugeordnet. Teilweise wurde für zwei, in Einzelfällen auch für drei (Urnen-)Wahlbezirke gemeinsam ein Briefwahlbezirk gebildet, dem diejenigen Wählerinnen und Wähler zugeordnet wurden, die in den zugehörigen Wahlbezirken von ihrem Recht auf Briefwahl Gebrauch machten. Gegenüber der Bundestagswahl 2017 war die Zahl der Urnenwahlbezirke um 477 erhöht worden, die sich auf die einzelnen Wahlkreise unterschiedlich verteilten. Dies geschah aufgrund einer Simulation der Landeswahlleitung im Juli 2020, bei der die Stimmzettel von 750 wählenden Personen mit jeweils sechs abgegebenen Stimmen ausgezählt worden waren. Auf dieser Grundlage hatte die Landeswahlleitung empfohlen, Wahllokale für maximal 750 Wählerinnen und Wähler einzurichten. Die Anzahl der Urnenwahlbezirke betrug in den Wahlkreisen zwischen 156 (Wahlkreis 77) und 234 (Wahlkreis 84); der Umfang der Erhöhung ihrer Zahl in den einzelnen Wahlkreisen reichte von gerundet 2 % (Wahlkreis 75) bis 97 % (Wahlkreis 84):
Wahlkreis |
Urnenwahllokale |
Urnenwahllokale |
Differenz |
|
|
2017 |
2021 |
absolut |
in % |
75 |
189 |
192 |
+ 3 |
+ 1,6 |
76 |
154 |
175 |
+ 21 |
+ 13,6 |
77 |
152 |
156 |
+ 4 |
+ 2,6 |
78 |
165 |
176 |
+ 12 |
+ 7,3 |
79 |
127 |
176 |
+ 49 |
+ 38,6 |
80 |
154 |
176 |
+ 22 |
+ 14,3 |
81 |
123 |
198 |
+ 75 |
+ 61,0 |
82 |
155 |
194 |
+ 39 |
+ 25,2 |
83 |
157 |
203 |
+ 46 |
+ 29,3 |
84 |
119 |
234 |
+ 115 |
+ 96,6 |
85 |
114 |
166 |
+ 52 |
+ 45,6 |
86 |
170 |
210 |
+ 40 |
+ 23,5 |
gesamt |
1.779 |
2.256 |
+ 477 |
+ 26,8 |
Der Einzugsbereich der einzelnen Wahllokale variierte deutlich. Unter Zugrundelegung der Wahlbeteiligung bei der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag 2017 in Berlin war in den Urnenwahllokalen der verschiedenen Wahlkreise durchschnittlich mit 446 Wählerinnen und Wählern (Wahlkreis 84) bis 678 Wählerinnen und Wählern (Wahlkreis 76) in Präsenz zu rechnen. Bei der Bundestagswahl 2017, die lediglich mit einem Volksentscheid verknüpft gewesen war, hatte das Maximum der Wählerinnen und Wähler je Wahllokal bei 1.432 und der Durchschnitt über alle Wahllokale bei 708 Wählenden gelegen (vgl. Abschlussbericht der „Expertenkommission Wahlen in Berlin“ vom 6. Juli 2022, S. 31 f.).
b) Bei der Wahl zum 20. Bundestag 2021 wurden in allen 2.256 Urnenwahlbezirken auf der Grundlage eines einheitlichen Vordrucks Niederschriften über die Ermittlung und Feststellung des Ergebnisses der Wahlen zum Deutschen Bundestag, zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zur jeweiligen Bezirksverordnetenversammlung sowie des Volksentscheids angefertigt. Diese Niederschriften enthielten unter der Ziffer 2 Angaben zur Stimmabgabe, insbesondere zur Anzahl der aufgestellten Wahlkabinen sowie zu den Uhrzeiten des Beginns und des Endes der Stimmabgabe. Zudem wurde abgefragt, ob es während der Stimmabgabe zu besonderen Vorfällen gekommen sei; wenn diese Frage mit „Ja“ beantwortet wurde, war der Wahlvorstand aufgefordert, über diese Vorfälle gesonderte Berichte anzufertigen, „ggf. nummeriert...
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