Beschluss vom 04. Dezember 2019 - 2 BvR 1832/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rk20191204.2bvr183219 |
Judgement Number | 2 BvR 1832/19 |
Date | 04 Diciembre 2019 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1832/19 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B..., |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 10. September 2019 - III-2 Ausl. 15/19 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin … |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 4. Dezember 2019 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 10. September 2019 - III-2 Ausl. 15/19 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt. Er wird in diesem Umfang aufgehoben
- Die Sache wird an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin Heike Geisweid, Bochum
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit und alevitischen Glaubens in die Türkei zur Strafverfolgung.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde von den türkischen Behörden am 4. April 2018 über Interpol im Wege einer sogenannten Red Notice zur Festnahme wegen eines Tötungsdelikts ausgeschrieben. Als er am 7. Januar 2019 in der Landeserstaufnahmeeinrichtung Bochum Asyl beantragte, wurde er polizeilich festgenommen und angehört, wobei seine Nichte während der Vernehmung übersetzte. Gemäß polizeilicher Sachverhaltsbeschreibung gab der Beschwerdeführer dabei an, er sei die gesuchte Person, habe aber keine Straftaten begangen. Er befinde sich seit vier Monaten in Deutschland und wohne seither bei seiner Nichte. Er sei Anhänger der türkischen Partei „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) und vermute, die Türkei wolle ihm deshalb Schaden zufügen.
Noch am selben Tag wurde der Beschwerdeführer von dem Ermittlungsrichter am Amtsgericht Bochum vernommen. Hierbei gab er an, er habe mit seiner offiziellen Anmeldung bei den deutschen Behörden vier Monate gewartet, bis seine Frau und Tochter aus der Türkei ausgereist seien. Diese seien einer Erstaufnahmeeinrichtung in Unna zugewiesen worden. Mit der ihm vorgeworfenen Tat habe er nichts zu tun. Er kenne den Geschädigten nicht und gehe davon aus, dass der Sachverhalt konstruiert worden sei. Er werde in der Türkei politisch verfolgt, sei mehrfach grundlos inhaftiert worden und Folterungen ausgesetzt gewesen. Demgemäß widerspreche er seiner Auslieferung.
Mit Beschluss vom 7. Januar 2019 verfügte das Amtsgericht, den Beschwerdeführer bis zur Entscheidung über die Auslieferungshaft festzuhalten.
2. Mit Beschluss vom 15. Januar 2019 ordnete das Oberlandesgericht Hamm auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft erstmals die vorläufige Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Es wies ergänzend darauf hin, dass sich aus seinen „bisherigen knappen und pauschalen Angaben“ keine greifbaren Anhaltspunkte dafür ergäben, dass er im Fall seiner Auslieferung politischer Verfolgung ausgesetzt sei.
3. Die Türkei übermittelte in der Folge ein Auslieferungsersuchen der Oberstaatsanwaltschaft Bakirköy vom 10. Januar 2019 zum Zwecke der Strafverfolgung des Beschwerdeführers. Dem Auslieferungsersuchen liegt ein Festnahmebefehl des Amtsgerichts Bakirköy vom 21. Juli 2017 zugrunde. Die Oberstaatsanwaltschaft wirft dem Beschwerdeführer vor, am 5. Juli 2017 um 3:00 Uhr nachts im Rahmen einer „unbekannten Auseinandersetzung“ vor dem Bahcelievler Özel-Vital-Krankenhaus an einer Schlägerei beteiligt gewesen zu sein. In dem Krankenhaus habe er zuvor eine Schnittverletzung seiner Hand versorgen lassen. Im Zuge der Auseinandersetzung habe der Beschwerdeführer eine Person mit einer Schusswaffe in den linken Oberschenkel geschossen, wodurch diese am 18. Juli 2017 infolge von Komplikationen verstorben sei. Im Anschluss an die Schussabgabe sei er mit einem Fahrzeug mit näher benanntem Kennzeichen geflohen. Der Vorwurf werde durch eine Zeugin und teilweise durch Aufzeichnungen einer Überwachungskamera belegt. Die Tat wird als „vorsätzlicher Mord“ bezeichnet. Sie werde mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Das Auslieferungsersuchen führt unter dem Punkt „Garantien“ aus, dass dem Beschwerdeführer keine politische, militärische oder finanzielle Straftat vorgeworfen werde. Er habe „alle gesetzlichen Rechte“, die in den von der Türkei ratifizierten internationalen Übereinkommen und im türkischen Recht vorgesehen seien. Dem Beschwerdeführer stehe über die Individualbeschwerde der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offen. Gegen ihn werde nur „wegen der im Auslieferungsersuchen angeführten Straftat verhandelt“. Falls der Beschwerdeführer vor dem Auslieferungsdatum eine weitere Tat begangen habe, werde nach der „Spezialitätsregel“ die Zustimmung verlangt. Stimmten die zuständigen Behörden Deutschlands nicht zu, werde „er nicht wegen der später aufgetretenen Straftat verhandelt“.
4. Das von der Generalstaatsanwaltschaft befasste Bundesamt für Justiz teilte am 6. Februar 2019 mit, es lägen keine Erkenntnisse vor, dass das Auslieferungsersuchen mit einer Mitgliedschaft des Beschwerdeführers bei der DHKP-C zusammenhängt.
5. Mit Schriftsatz vom 10. Februar 2019 wandte sich der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer gegen die Anordnung der Auslieferungshaft und die Zulässigkeit der Auslieferung. Er bestritt die Tat und führte aus, er sei kein Mitglied der DHKP-C. In der Türkei beauftragten Rechtsanwälten sei die Einsicht in die Ermittlungsakte der Anlasstat und die angebliche Videoaufzeichnung versagt worden, weil diese als geheim eingestuft seien. Er befürchte, die Tat solle ihm „untergeschoben“ werden. So etwas sei ihm bereits 2016 geschehen. Am 6. September 2016 sei er von Spezialeinheiten in seinem Auto angehalten worden. Ihm sei wahrheitswidrig vorgeworfen worden, dass er eine „Kalaschnikow“ nebst Munition in seinem Auto transportiere. Während seines darauffolgenden Aufenthalts auf der Polizeiwache sei er Misshandlungen und Folterungen ausgesetzt gewesen. Den Tatvorwurf habe er schon damals bestritten. Er sei am 14. September 2016 in Untersuchungshaft genommen und am Tag der Urteilsverkündung, am 13. April 2017, wieder freigelassen worden. Man habe ihn zu Unrecht wegen illegalen Waffenbesitzes zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt. In dem Urteil sei auch festgehalten worden, dass er bis 2006 in der DHKP-C aktiv gewesen sei. Die verhängte Haftstrafe sei mit einer Meldeanordnung zur Bewährung ausgesetzt worden. Sein gegen das Urteil gerichtetes Rechtsmittel sei mit Entscheidung vom 21. Dezember 2017 zurückgewiesen worden. Er sei seiner Meldeauflage zunächst nachgekommen, später aber auf Anraten seiner Rechtsanwälte untergetaucht. Im Falle seiner Auslieferung drohe die Vollstreckung der insoweit verhängten Freiheitsstrafe. Zudem drohten ihm Folter und menschenrechtswidrige Behandlung, wie er sie bereits bei früheren Verhaftungen erlebt habe.
Der Strafvollzug in der Türkei leide an systemischen Mängeln, unter anderem Überbelegung, defizitärem Zugang zu Trinkwasser, schlecht geheizten Räumen sowie fehlendem Zugang zu Frischluft und Licht. Auch die Gesundheitsversorgung sei eingeschränkt. Verschiedene Quellen berichteten von Misshandlungen, erniedrigender Behandlung und Folter. Seit dem Putschversuch in der Türkei sei die Zahl willkürlicher Festnahmen von Oppositionellen dramatisch angestiegen. Seither habe auch das Risiko von Folter – begünstigt durch Notstandsdekrete, die etwa den Zugang zu Rechtsbeiständen einschränkten – erheblich zugenommen. Rechtsverstöße von Polizisten blieben straffrei. Hiervon Betroffene würden sich aus Angst vor Repressalien nicht beschweren. Beschwerden, die eingereicht würden, würden nicht bearbeitet.
Wegen seiner politischen Aktivitäten sei der Beschwerdeführer bereits mehrmals festgenommen worden. Er werde in der Türkei als politischer Gegner angesehen, auch wenn die dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Tat keinen politischen Bezug erkennen lasse. Er habe sich in verschiedenen revolutionären Gruppierungen bewegt und sei anlässlich des „Todesfastens der politischen Gefangenen“ im Jahr 2000 aktiv geworden. Er habe den Hungerstreik als Teilnehmer an mehreren Solidaritätsaktionen unterstützt, sei ungefähr dreißigmal festgenommen und während der jeweils ein- bis mehrtägigen Ingewahrsamnahmen immer wieder misshandelt worden. Er ordne sich selbst keiner politischen Gruppierung zu. Aktiver sei er jedoch in der TAYAD gewesen, einer linken Organisation, die Gefangene und ihre Familien unterstütze. Er habe auch gegen Drogenbanden demonstriert. Nach dem Putschversuch habe er unter anderem an Demonstrationen gegen die Angriffe auf das alevitische Versammlungs- und Gebetshaus in Sultangazi teilgenommen. Im Dezember 2008 sei er erstmals inhaftiert worden. Er sei auf der Straße aufgegriffen worden und bis zur Richtervorführung Misshandlungen und Folter ausgesetzt gewesen. Infolgedessen leide er...
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