Beschluss vom 07. Juni 2023 - 2 BvR 2139/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230607.2bvr213921 |
Judgement Number | 2 BvR 2139/21 |
Date | 07 Junio 2023 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 07. Juni 2023 - 2 BvR 2139/21 -, Rn. 1-30, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2139/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
gegen |
a) |
den Beschluss des Amtsgerichts Sinzig |
vom 4. November 2021 - 14 C 104/21 -, |
||
b) |
das Urteil des Amtsgerichts Sinzig |
|
vom 1. September 2021 - 14 C 104/21 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
und den Richter Offenloch
am 7. Juni 2023 einstimmig beschlossen:
- Das Urteil des Amtsgerichts Sinzig vom 1. September 2021 - 14 C 104/21 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz. Das Urteil wird aufgehoben, soweit das Amtsgericht die Beschwerdeführerin zur Zahlung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 35,10 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Mai 2020 verurteilt hat und soweit das Amtsgericht hinsichtlich der Verurteilung zur Zahlung dieser außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten nebst Zinsen nicht die Berufung zugelassen hat
- Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht Sinzig zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Im Umfang der Aufhebung ist der Beschluss des Amtsgerichts Sinzig vom 4. November 2021 - 14 C 104/21 - gegenstandslos
- Das Land Rheinland-Pfalz hat der Beschwerdeführerin die Hälfte ihrer notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein amtsgerichtliches Urteil, mit dem die Beschwerdeführerin unter anderem zur Zahlung von Inkassokosten verurteilt wurde.
1. Die Beschwerdeführerin unterzeichnete in einer Filiale der T. GmbH (im Folgenden: T.) einen Mobilfunkvertrag, der das Recht auf einen schnellen Internetzugang beinhaltete. Nachträglich kam sie zu der Auffassung, dass sie keinen derart umfangreichen Vertrag benötige und falsch beraten worden sei. Sie schickte die SIM-Karte an die T. zurück und schrieb in mehreren Schriftsätzen, der Vertrag sei sittenwidrig und damit unwirksam, sie sei nicht bereit, weiter zu bezahlen, werde auch Forderungen von Inkassounternehmen ignorieren und die von ihr bereits geleisteten Zahlungen in einem gerichtlichen Verfahren zurückfordern. Die T. ließ sich nicht auf eine Vertragsaufhebung ein und beauftragte ein Inkasso- unternehmen mit der Beitreibung ihrer Forderung. Dessen Bemühungen blieben erfolglos.
2. Die T. erhob Klage zum Amtsgericht mit dem Antrag, die Beschwerdeführerin zur Zahlung der Hauptforderung sowie – nebst weiteren Verzugsschäden – zur Zahlung der Inkassokosten in Höhe von 70,20 Euro zu verurteilen. Inkassokosten seien grundsätzlich als Verzugsschaden erstattungsfähig. Die Forderung sei unbestritten gewesen. Die Beschwerdeführerin beantragte im Wege der Widerklage, die Klage abzuweisen und die T. zu verurteilen, die nach der Rücksendung der SIM-Karte geleisteten Beträge zu erstatten. Der Vertrag sei wegen Sittenwidrigkeit von Anfang an unwirksam gewesen, und man habe sie getäuscht. Ein Anspruch auf Ersatz der Inkassokosten bestehe entsprechend der ganz herrschenden Meinung – insoweit nahm die Beschwerdeführerin auf mehrere obergerichtliche Entscheidungen und Literatur Bezug – auch deshalb nicht, weil sie die Forderungen sehr wohl wiederholt bestritten habe. Die T. habe ihre Erklärungen ignoriert und kostentreibend Inkassobüros eingeschaltet. Sie beantrage, in einer abschließenden Entscheidung die Berufung zuzulassen.
Das Amtsgericht Sinzig verurteilte die Beschwerdeführerin im angegriffenen Urteil vom 1. September 2021 zur Zahlung eines Geldbetrages unter 600 Euro, darunter 35,10 Euro außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Form von Inkassokosten. Die Berufung ließ es nicht zu. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, der Vertrag sei weder sittenwidrig noch wirksam angefochten worden. Weiter schrieb das Amtsgericht: „Die Beklagte ist aus Verzugsgesichtspunkten auch zur Tragung von Inkassokosten verpflichtet. Diese sind jedoch im Hinblick auf die spätere Beauftragung eines Rechtsanwalts nur in Höhe einer 0,65 Gebühr nach dem RVG erstattungsfähig. […] Eine Zulassung der Berufung ist nicht geboten. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch ist die Zulassung der Berufung zur Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten.“
3. Die Beschwerdeführerin legte Anhörungsrüge gegen das Urteil ein und führte unter anderem aus, das Urteil habe sich mit relevanten Teilen ihres Vortrages nicht auseinandergesetzt. Inkassokosten seien nur bei unbestrittenen Forderungen erstattungsfähig, wie sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergebe. Insoweit verwies die Beschwerdeführerin auf den Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 2011 - 1 BvR 1012/11 - und den Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Mai 2020 - 2 BvR 1762/16 -. Danach hätte das Amtsgericht die Berufung zulassen müssen, da es insoweit von der herrschenden Rechtsauffassung abgewichen sei.
Das Amtsgericht Sinzig wies die Anhörungsrüge mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 4. November 2021 zurück. Zur Begründung heißt es: „Die Beklagte ist nicht in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt...
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