Beschluss vom 09. Februar 2022 - 2 BvR 1368/16
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rs20220209.2bvr136816 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 09. Februar 2022 - 2 BvR 1368/16 -, Rn. 1-197, |
Date | 09 Febrero 2022 |
Judgement Number | 2 BvR 1368/16 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1368/16 -
- 2 BvR 1444/16 -
- 2 BvR 1482/16 -
- 2 BvR 1823/16 -
- 2 BvE 3/16 -
des Herrn Prof. Dr. rer. nat. (…), |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
1. |
eine Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland durch das zuständige Regierungsmitglied zum Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) und deren Zustimmung zur vorläufigen Anwendung dieses Abkommens im Rat der Europäischen Union, |
2. |
für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht erkennt, dass die Beschlüsse des Rates der Europäischen Union nicht der Zustimmung aller Mitgliedstaaten und damit auch nicht der Zustimmung Deutschlands bedürfen, gegen das Unterlassen der Bundesregierung, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Verabschiedung des Abkommens der Europäischen Union mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) und die vorläufige Anwendung dieses Abkommens durch Beschluss des Rates der Europäischen Union zu verhindern, insbesondere eine Staatenklage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Europäische Union zur Klärung der Vertragswidrigkeit des Abkommens der Europäischen Union mit Kanada, CETA, und auch dessen vorläufige Anwendbarkeit zu betreiben |
- 2 BvR 1368/16 -,
der Frau (…), | ||
sowie 68.015 weiterer Beschwerdeführer |
- Bevollmächtigte:
-
1. (…),
- 2. Prof. Dr. Martin Hochhuth,
-
Hochschule für Polizei und
öffentliche Verwaltung NRW,
Dennewartstr. 25 - 27, 52068 Aachen -
gegen |
1. |
die Zustimmung zum CETA-Vertrag durch die Bundesregierung im Rat der Europäischen Union oder im Europäischen Rat, |
2. |
hilfsweise die Zustimmung der Europäischen Union zum CETA-Vertrag, |
|
3. |
die Zustimmung des Bundestages zum CETA-Vertrag |
- 2 BvR 1444/16 -,
des Herrn (…), | ||
sowie 62 weiterer Beschwerdeführer |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
1. |
die Nichtablehnung der durch die Kommission beantragten Annahme des CETA sowie die ebenfalls beantragte Autorisierung des Ratspräsidenten zum Abschluss des CETA im Namen der EU durch den Deutschen Vertreter im Rat der EU, |
2. |
die Nichtablehnung der durch die Kommission beantragten vorläufigen Anwendung des CETA im Namen der EU durch den Deutschen Vertreter im Rat der EU |
- 2 BvR 1482/16 -,
des Herrn (…), | ||
sowie 125.011 weiterer Beschwerdeführer |
- Bevollmächtigte:
-
1. (…),
- 2. (…) -
gegen |
die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union zur Unterzeichnung, zum Abschluss und zur vorläufigen Anwendung des Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits (CETA) bzw. gegen die Nichtablehnung dieser Ratsbeschlüsse durch den deutschen Vertreter im Rat |
- 2 BvR 1823/16 -,
1. |
mit der Nichtablehnung der durch die Kommission beantragten Annahme des Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) sowie der ebenfalls beantragten Autorisierung des Ratspräsidenten zum Abschluss des CETA im Namen der EU durch den Deutschen Vertreter im Rat der EU Grundgesetz und Europarecht und dadurch Rechte des Deutschen Bundestages verletzt, |
|
2. |
mit der Nichtablehnung der durch die Kommission beantragten vorläufigen Anwendung des CETA im Namen der EU durch den Deutschen Vertreter im Rat der EU Grundgesetz und Europarecht und dadurch Rechte des Deutschen Bundestages verletzt, |
Antragstellerin: |
Fraktion Die Linke |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
Antragsgegnerin: |
Bundesregierung, |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
- 2 BvE 3/16 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
am 9. Februar 2022 gemäß § 24 BVerfGG beschlossen:
- Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
-
Die Verfassungsbeschwerden und der Antrag im Organstreitverfahren werden verworfen, soweit sie sich gegen die Mitwirkung des deutschen Vertreters am Beschluss des Rates der Europäischen Union über die Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Union – des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits (Beschluss
2017/37 des Rates vom 28. Oktober 2016, ABl EU Nr. L 11 vom 14. Januar 2017, S. 1 f.) sowie gegen den noch ausstehenden Beschluss des Rates der Europäischen Union über den Abschluss des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits (COM 443 final vom 5. Juli 2016) richten.
- Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden und der Antrag im Organstreitverfahren zurückgewiesen.
A.
Die Verfassungsbeschwerden und das Organstreitverfahren wenden sich gegen das Verhalten deutscher und europäischer Organe in Bezug auf die Unterzeichnung, die vorläufige Anwendung und den Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA).
I.
1. Die Europäische Union und Kanada beschlossen auf ihrem Gipfeltreffen in Berlin im Jahr 2007, ein Gutachten über die Kosten und Vorteile einer engeren ökonomischen Partnerschaft einzuholen. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass eine Beseitigung der Handelsschranken mit einer erheblichen Ausweitung der wirtschaftlichen Aktivität der Europäischen Union, aber vor allem Kanadas einherginge.
Am 10. Juni 2009 nahmen die Europäische Union und Kanada Verhandlungen über ein Wirtschafts- und Handelsabkommen auf (vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 10. Juni 2009, IP/09/896). Am 1. August 2014 wurden die Verhandlungen abgeschlossen und das Abkommen paraphiert. Auf dem Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und Kanada im September 2014 wurde das Ende der Verhandlungen bekannt gegeben (vgl. COM 444 final vom 5. Juli 2016, S. 2). Nach Veröffentlichung des bereits ausgehandelten Textes im August 2014 vereinbarten die Europäische Kommission und die kanadische Regierung später, im Rahmen von CETA einen neuen Ansatz für den Investitionsschutz und die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zugrunde zu legen. Am 29. Februar 2016 verkündete die Europäische Kommission, dass sich die Europäische Union und Kanada auf einen solchen neuen Ansatz bei Investitionen geeinigt hätten und von dem zunächst ausgehandelten System der Ad-hoc-Schiedsgerichte zugunsten eines ständigen, institutionalisierten Gerichts abgewichen werde. Die Mitglieder des Gerichts würden künftig nicht mehr von den Streitparteien, also dem Investor und dem beteiligten Staat, sondern von den Vertragsparteien des Abkommens im Voraus ernannt. Ethische Verpflichtungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten würden detailliert geregelt und ein Berufungssystem eingeführt, das den in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bestehenden Rechtsschutzsystemen vergleichbar sei (vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 29. Februar 2016, IP/16/399).
Ausweislich der Erwägungsgründe soll CETA der weiteren Stärkung der engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien (erster Erwägungsgrund) und der Schaffung eines erweiterten und sicheren Marktes für Waren und Dienstleistungen der Vertragsparteien durch den Abbau oder die Beseitigung von Handels- und Investitionshemmnissen (zweiter Erwägungsgrund) dienen. Gleichzeitig bekräftigen die Vertragsparteien ihr Recht, in ihren Hoheitsgebieten unter Wahrung ihrer Flexibilität berechtigte Gemeinwohlziele wie öffentliche Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz, öffentliche Sittlichkeit, Förderung und Schutz der kulturellen Vielfalt zu verfolgen sowie regelnd tätig zu werden (sechster und achter Erwägungsgrund).
2. CETA – ein Freihandelsabkommen „neuer Generation“ – besteht in seinem Hauptteil aus 30 Kapiteln, die teilweise in Abschnitte gegliedert sind. Der im Hauptteil enthaltene Art. 30.1 erklärt sämtliche Protokolle, Anhänge, Erklärungen, Gemeinsame Erklärungen, Vereinbarungen und Fußnoten des...
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