Beschluss vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rk20190515.2bvr242518 |
Judgement Number | 2 BvR 2425/18 |
Date | 15 Mayo 2019 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2425/18 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau H…, |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Raphael Banaszkiewicz,
Brandenburger Platz 19, 03046 Cottbus -
gegen |
a)den Beschluss des Landgerichts Dessau-Roßlau |
|
vom 27. September 2018 - 1 T 83/18 -, |
||
b)den Beschluss des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen |
||
vom 12. März 2018 - 9 K 68/15 -, |
||
c)den Beschluss des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen |
||
vom 12. März 2018 - 9 K 68/15 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Müller
und die Richterin Langenfeld
am 15. Mai 2019 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 27. September 2018 - 1 T 83/18 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Dessau-Roßlau zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Die Aussetzung der Vollziehung des Zuschlagsbeschlusses des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen vom 12. März 2018 - 9 K 68/15 - wird bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts über die sofortige Beschwerde verlängert
- Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO in einem Zwangsversteigerungsverfahren.
1. Auf Antrag einer Gläubigerin wurde mit Beschluss vom 12. November 2015 wegen dinglicher Ansprüche aus einer Teilforderung in Höhe von 4.800,- € nebst Zinsen die Zwangsversteigerung des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks der Beschwerdeführerin angeordnet. Mit Beschlüssen vom 3. Januar 2017 und 15. Februar 2017 ließ das Amtsgericht Bitterfeld-Wolfen den Beitritt weiterer Gläubigerinnen wegen Forderungen in Höhe von 10.000,- € beziehungsweise 9.045,40 € zu.
2. Der Versteigerungstermin wurde zuletzt auf den 26. Februar 2018 bestimmt. Mit Anwaltsschriftsatz vom 21. Februar 2018 beantragte die 53jährige alleinstehende Beschwerdeführerin Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO. Die Fortführung des Versteigerungsverfahrens gefährde ihre Gesundheit und ihr Leben akut. Der mit dem Zuschlag verbundene Verlust ihres Hausgrundstücks werde eine unkontrollierbare psychische Überbelastung verursachen und lebensbeendende Suizidhandlungen sehr wahrscheinlich machen. Zum Beweis ihres Vortrags bot die Beschwerdeführerin die Einholung eines Sachverständigengutachtens an.
3. Das Amtsgericht führte den angesetzten Versteigerungstermin durch. Nach Anhörung der Beteiligten wies es den Vollstreckungsschutzantrag mit Beschluss vom 12. März 2017 zurück und erteilte dem Meistbietenden mit Beschluss vom selben Tag den Zuschlag. Die Suizidgefahr sei nicht ausreichend vorgetragen und glaubhaft gemacht worden. Außerdem könne der Gefahr durch einen (freiwilligen) Umzug oder eine Unterbringung der Beschwerdeführerin begegnet werden. Zudem fehle es an Vortrag, wie die Beschwerdeführerin selbst zur Verbesserung ihres Gesundheitszustands beitrage.
4. Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin stellte das Landgericht Dessau-Roßlau die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss einstweilen, bis zu einer Entscheidung über die sofortige Beschwerde, ein und ordnete die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Behauptung der Beschwerdeführerin an, die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens verursache eine unkontrollierbare psychische Überlastung, in deren Folge eine lebensbeendende Suizidhandlung sehr wahrscheinlich sei. Ferner sollte festgestellt werden, inwieweit psychotherapeutische und psychiatrische Hilfe eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes bewirken könnten und wieviel Zeit dafür anzusetzen sei.
Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass der Verlust des Hauses bei dem aktuellen psychischen Zustand der Beschwerdeführerin geeignet sei, eine lebensbeendende Handlung sehr wahrscheinlich zu machen. Zur Stabilisierung des Gesundheitszustands empfahl die Gutachterin eine psychiatrische, gegebenenfalls medikamentöse, sowie eine psychotherapeutische Behandlung. Sofern die Beschwerdeführerin hierfür eigenes Bemühen zeige, könnten die notwendigen Veränderungen binnen sechs Monaten erreicht werden. Sollte es der Beschwerdeführerin nicht möglich sein, entsprechende ambulante Hilfe in dieser Zeit zu generieren oder sollte sie binnen sechs Monaten keine entsprechenden Fortschritte machen, so sei eine stationäre Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu empfehlen. Denn die Herausnahme aus dem häuslichen Umfeld sei nicht nur geeignet, insbesondere eigenaggressive Handlungen zu verhindern, sondern könne auch die Basis schaffen, dass die Beschwerdeführerin den Verlust ihres Grundstücks bewältigen könne.
Mit Beschluss vom 27. September 2018 wies das Landgericht die sofortigen Beschwerden gegen die Beschlüsse vom 12. März 2017 zurück. Zur Begründung führte es aus, dass bereits eine tatsächliche Suizidgefahr nicht erwiesen sei. Unabhängig davon falle die Abwägung zwischen den Interessen der Beschwerdeführerin und der Gläubigerin zugunsten der Gläubigerin aus, weil der Suizidgefahr durch die vorübergehende Unterbringung der Beschwerdeführerin wirksam begegnet werden könne. Denn die vorübergehende Unterbringung verbunden mit therapeutischen Maßnahmen könne zur Stabilisierung der Beschwerdeführerin und damit zur Beseitigung der Lebensgefahr führen. Eine befristete Einstellung unter Auflagenerteilung halte nur die unrealistische Hoffnung der Beschwerdeführerin aufrecht, dass die Zwangsversteigerung nicht weiter betrieben werde oder abgewendet werden könne, und sei deshalb keine geeignete Maßnahme.
5. Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2018 erhob die Beschwerdeführerin Anhörungsrüge, die das Landgericht mit...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN-
Beschluss vom 28. Oktober 2020 - 2 BvR 764/20
...der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 548/16 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, Rn. 28). 3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Diese Entscheidung ist unanfec......
-
Beschluss vom 28. Oktober 2020 - 2 BvR 765/20
...der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 548/16 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, Rn. 28). 3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Diese Entscheidung ist unanfec......
-
Beschluss vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22
...besonders sorgfältig nachgegangen wird (vgl. BVerfGE 52, 214 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, Rn. 20 m.w.N.). Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefah......
-
Beschluss vom 28. Oktober 2020 - 2 BvR 764/20
...der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 548/16 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, Rn. 28). 3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Diese Entscheidung ist unanfec......
-
Beschluss vom 28. Oktober 2020 - 2 BvR 765/20
...der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 548/16 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, Rn. 28). 3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Diese Entscheidung ist unanfec......
-
Beschluss vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22
...besonders sorgfältig nachgegangen wird (vgl. BVerfGE 52, 214 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18 -, Rn. 20 m.w.N.). Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefah......