BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvQ 87/20 -
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung
a) |
die vom Landgericht Bonn in dem Verfahren 62 KLs-213 Js 32/20-1/20 anberaumten, am 17. November 2020 beginnenden Hauptverhandlungstermine aufzuheben und das dortige Verfahren vorläufig auszusetzen, |
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b) |
hilfsweise anzuordnen, die vom Landgericht Bonn in dem Verfahren 62 KLs-213 Js 32/20-1/20 anberaumten Verhandlungstermine im November 2020, also am 17., 26. und 27. November 2020, aufzuheben |
Antragsteller: |
S… |
- Bevollmächtigte:
- … -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 16. November 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt
Der Antragsteller wendet sich gegen die Ablehnung eines Antrags auf Aufhebung der ab dem 17. November 2020 anstehenden Hauptverhandlungstermine vor dem Landgericht Bonn durch Beschluss vom 10. November 2020. Er begehrt den Erlass der einstweiligen Anordnung, die anberaumten Termine aufzuheben und das Strafverfahren auszusetzen, hilfsweise die Aufhebung der für den 17., 26. und 27. November 2020 anberaumten Termine, um ihn als Angehörigen der Risikogruppe nicht der Gefahr einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) auszusetzen.
I.
1. Die Staatsanwaltschaft klagte den Antragsteller und drei weitere Personen wegen des Verdachts der Beteiligung an Betrugstaten im Zusammenhang mit Aktienkäufen über den Dividendenstichtag (so genannte Cum-/Ex-Geschäfte) zur Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts an.
2. Der 77 Jahre alte Antragsteller macht geltend, er sei gesundheitlich angeschlagen. Er verweist auf zahlreiche Atteste und Stellungnahmen sowie ein Gutachten eines rechtsmedizinischen Sachverständigen. Danach bestehen bei ihm Vorschädigungen der Lunge; der linke Lungenoberlappen musste ihm im Jahr 1967 nach einer Lungentuberkuloseerkrankung entfernt werden. Der Antragsteller leidet weiter unter einer dauerhaft verringerten Nierenfunktion, leichtem – gut eingestelltem – Bluthochdruck und an der Autoimmunerkrankung Morbus Basedow. Die Autoimmunerkrankung bewirkt bei dem Antragsteller eine krankhafte Schilddrüsenüberfunktion und eine blasenbildende Hauterkrankung. Die Gehfähigkeit des Antragstellers ist arthrosebedingt eingeschränkt. Im Jahr 2012 erkrankte er zudem an Darmkrebs. Der Tumor konnte komplett entfernt werden. Tochtergeschwülste wurden bislang nicht festgestellt.
3. a) Im Zwischenverfahren wies der Antragsteller unter Vorlage entsprechender Atteste auf diese Vorerkrankungen hin. Nach Anhörung des Antragstellers beschloss die Strafkammer am 15. Oktober 2020, das Verfahren gegen den Antragsteller abzutrennen, da die Durchführung einer Hauptverhandlung mit vier Angeklagten unter Coronabedingungen angesichts der angezeigten Schutzmaßnahmen zugunsten einzelner Verfahrensbeteiligter unverhältnismäßig aufwendig wäre. Die Kammer stellte klar, sie beabsichtige nach Möglichkeit, die Verhandlung gegen den Antragsteller vorzuziehen. Mit demselben Beschluss eröffnete sie das Hauptverfahren gegen den Antragsteller und ließ die Anklage zur Hauptverhandlung zu.
b) Am 20. Oktober 2020 erreichte den Antragsteller die Terminsverfügung des Gerichts. Der Kammervorsitzende bestimmte Termin zur Hauptverhandlung auf den 17. November 2020 und weitere Termine zur Fortsetzung der Hauptverhandlung bis Anfang Januar 2021. Die Terminsladung enthielt Hinweise auf die Pflichten bei der Wahrnehmung von Terminen angesichts der COVID-19-Pandemie. Wer Symptome habe, die auf eine COVID-19-Erkrankung hindeuteten, dürfe das Gericht nicht betreten. Beim Betreten des Gerichtsgebäudes sei eine Maske zu tragen, die Mund und Nase bedecke. Die Handdesinfektionsmittel im Eingangsbereich seien zu benutzen. Zudem solle zu anderen Personen ein Abstand von 1,5 Metern eingehalten werden.
c) Mit Schriftsatz an das Landgericht vom 23. Oktober 2020 beantragte der Antragsteller die Aufhebung der Termine. Das Verfahren sei angesichts des schlechten allgemeinen Gesundheitszustandes des Antragstellers bis jedenfalls Januar 2021 „ruhend zu stellen“. Da weder Verjährung drohe noch eine Haftsache vorliege und auch sonst keine besondere Dringlichkeit erkennbar sei, sei es nicht hinnehmbar, dem Antragsteller das Risiko einer mehrstündigen Reise zum Gericht aufzubürden. Zu bedenken sei, dass die Hausärztin des Antragstellers diesem attestiert habe, er gehöre aufgrund seines Alters und seiner Vorerkrankungen zu der Patientengruppe, bei der im Falle einer COVID-19-Erkrankung mit einem schweren Verlauf zu rechnen sei. Es bestehe sogar das Risiko, dass eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus tödlich ende. Mit weiteren Schriftsätzen vom 23. und 27. Oktober 2020 und vom 6. November 2020 vertiefte der Antragsteller seinen Vortrag. Am 28. Oktober 2020 nahm die Staatsanwaltschaft zu den Anträgen Stellung; sie erachtete die Argumente des Antragstellers als „beachtenswert“ und eine Verlegung der Hauptverhandlung und eine Terminierung, die sich an der Infektionslage orientiere, als vertretbar.
4. a) Das Landgericht ordnete mit Beschluss vom 30. Oktober 2020 gemäß § 81a Abs. 1 Satz 1 StPO die einfache körperliche Untersuchung des Antragstellers durch einen rechtsmedizinischen Sachverständigen an. Der Sachverständige solle zur Verhandlungsfähigkeit des Antragstellers Stellung nehmen und ausführen, ob für den Antragsteller im Fall einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus ein im Vergleich zur Allgemeinheit erhöhtes Risiko einer schweren Erkrankung bestehe und ob er durch geeignete Vorsichtsmaßnahmen das Infektionsrisiko erheblich verringern könne. Ausdrücklich fragte das Gericht an, ob eine naheliegende und konkrete Gefahr bestehe, dass der Antragsteller bei Durchführung der Hauptverhandlung schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde. Der Sachverständige solle in seinem Gutachten das Hygienekonzept des Landgerichts beachten.
In diesem Hygienekonzept verwies der Kammervorsitzende auf die Lüftungsanlage in den Sitzungssälen, die für einen kompletten Luftaustausch alle 30 Minuten sorge und an ein Messgerät für den Raumluftgehalt an CO2 gekoppelt sei. Überschreite der CO2-Gehalt einen bestimmten Grenzwert, springe die Anlage sofort an und es komme schon nach 20 Minuten zu einem kompletten Austausch der Luft im Sitzungssaal. Die Säle verfügten zudem über Plexiglasscheiben in den Bereichen, in denen ein Abstand zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht eingehalten werden könne. Die Bestuhlung für die Öffentlichkeit sei derart reduziert, dass die erforderlichen Sicherheitsabstände eingehalten werden könnten. Zudem gelte im Sitzungssaal eine Maskenpflicht. Die Verfahrensbeteiligten würden mit Masken ausgestattet, die ein besonders hohes Maß an Sicherheit böten und die verbale und nonverbale Kommunikation nicht übermäßig beeinträchtigten. Im Gerichtsgebäude – außerhalb des Sitzungssaales – gelte ebenfalls Maskenpflicht. Zudem befinde sich eine ausreichende Anzahl von Spendern mit Desinfektionsmittel im Saaltrakt. Empfohlen werde zur Vermeidung von Schmierinfektionen eine regelmäßige Handdesinfektion.
b) Der Antragsteller wandte sich mit Schriftsätzen vom 2. und 4. November 2020 gegen die Auswahl des Sachverständigen, da dieser als Facharzt für Rechtsmedizin nicht die notwendige Sachkunde eines Lungenfacharztes oder eines Virologen habe. Außerdem lehnte er die beteiligten Richter mit Schriftsätzen vom 30. Oktober 2020, vom 4. November 2020 und vom 5. November 2020 als befangen ab. Die Befangenheitsanträge wurden zurückgewiesen.
c) Der Sachverständige untersuchte den Antragsteller am 5. November 2020 und erstattete am 9. November 2020 sein Gutachten.
Er erachtete den Antragsteller als verhandlungsfähig. Die Krebserkrankung und die Autoimmunerkrankung spielten für die Einschätzung der Verhandlungsfähigkeit keine Rolle. Die Lungentuberkulose sei ausgeheilt. Bei einer Lungenfunktionsüberprüfung im Jahr 2019 seien keine wesentlichen Einschränkungen der Lungenfunktion durch die teilweise Lungenresektion und die dadurch entstandenen Vernarbungen im Bereich des Lungenflügels festgestellt worden. Insbesondere bestünden keine Einschränkungen beim Atmen, auch nicht, wenn der Antragsteller eine Maske trage. Der Einschränkung der Nierenfunktion müsse derzeit nicht mit einer funktionsunterstützenden Therapie begegnet werden. Der Bluthochdruck werde medikamentös behandelt. Eine frühere kardiologische Abklärung habe keinerlei Hinweise auf Herzerkrankungen erbracht.
Im Hinblick auf die Pandemielage sei zu unterscheiden zwischen dem Risiko, sich mit dem neuartigen Coronavirus zu infizieren, und dem Risiko, das mit einer Infektion einhergehe. Allgemein sei darauf zu verweisen, dass in der derzeitigen Lockdown-Situation die Ansteckungsgefahr reduziert sei. Es stehe zu befürchten, dass es nach dem Ende des Lockdowns zu einem neuerlichen Anstieg der Infektionszahlen komme. Von daher gehe eine Terminierung Mitte/Ende November vermutlich mit einem geringeren Risiko einher als eine in absehbarer Zeit terminierte spätere Verhandlung. Die Vorerkrankungen des Antragstellers führten unabhängig davon zu keinem wesentlich höherem Risiko, sich mit dem Virus zu...