Beschluss vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220318.2bvr123220 |
Judgement Number | 2 BvR 1232/20 |
Date | 18 Marzo 2022 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1232/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen |
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 11. Juni 2020 - 1 L 67/20 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Maidowski
und die Richterin Langenfeld
am 18. März 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 11. Juni 2020 - 1 L 67/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes
- Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt zurückverwiesen
- Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Richter am Amtsgericht im Dienst des Landes Sachsen-Anhalt. Er wurde bis April 2010 nach Lebensaltersstufen besoldet.
2. Am 26. März 2012 legte der Beschwerdeführer Widerspruch gegen die Höhe seiner Besoldung ein. Zur Begründung führte er aus, dass die Besoldung nach Altersstufen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einen Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung darstelle. Den Widerspruch wies das Land Sachsen-Anhalt, vertreten durch das Finanzamt (im Folgenden: Beklagter), zurück. Ein Anspruch auf Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sei verfristet.
3. Gegen den Widerspruchsbescheid erhob der Beschwerdeführer Klage beim Verwaltungsgericht Magdeburg und beantragte, den Beklagten zu verpflichten, ihm eine angemessene Entschädigung wegen altersdiskriminierender Besoldung für den Zeitraum von August 2006 bis April 2010 zu zahlen. Dies begründete er unter anderem damit, dass die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG in Fällen der altersdiskriminierenden Besoldung nicht mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz vereinbar sei.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer ein Schreiben des Beklagten vom 5. Juni 2018 an das Verwaltungsgericht Halle vor, wonach dort 10.667 Anträge oder Widersprüche mit der Rüge einer altersdiskriminierenden Besoldung eingegangen seien. 3.513 hätten zu einer Zahlung geführt; 6.516 seien wegen Versäumung der Frist des § 15 Abs. 4 AGG abgelehnt worden.
4. Mit Urteil vom 21. Juni 2018 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus, dass der Beschwerdeführer die Frist des § 15 Abs. 4 AGG nicht eingehalten habe. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers mache die Frist von zwei Monaten die Ausübung der dem Beamten vom Unionsrecht verliehenen Rechte weder unmöglich noch erschwere sie diese übermäßig. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem vorgelegten Schreiben des Beklagten an das Verwaltungsgericht Halle. Danach seien 61 % der Anträge wegen Fristversäumnis abgelehnt worden; 39 % hätten demgegenüber Erfolg gehabt. Dies spreche gegen eine übermäßige Erschwernis der Geltendmachung. Das Gericht sehe auch keinen Anlass, von Amts wegen weitere Ermittlungen darüber anzustellen, in wie vielen Fällen Beamten über das beklagte Land hinaus unter Bezugnahme auf § 15 Abs. 4 AGG eine Entschädigung versagt worden sei. Ob und wann ein Betroffener einen Antrag stelle, hänge von mannigfaltigen Umständen wie der Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten, der Entschlusskraft oder der Ausprägung des Bedürfnisses nach letzter Klärung des Vorliegens anspruchsbegründender Merkmale vor Geltendmachung des Anspruchs ab. Ob und wie viele Antragsteller an der Frist scheiterten, sei deshalb für die Frage, ob den Beamten die Geltendmachung der Rechte unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werde, letztlich nicht von Bedeutung. Dass die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG den Maßgaben des Effektivitätsgrundsatzes genüge, sei im Übrigen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt.
5. Gegen das Urteil beantragte der Beschwerdeführer die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an dessen Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zur Begründung führte er aus, dass das Verwaltungsgericht rechtsirrig davon ausgehe, es liege kein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz vor. Dies ergebe sich aus den vom Beklagten mit Schreiben vom 5. Juni 2018 mitgeteilten Zahlen. Jedenfalls führe die durch das Bundesverwaltungsgericht erfolgte Festlegung des Fristbeginns für die Betroffenen zu einer übermäßigen Erschwerung der Ausübung der von der Richtlinie verliehenen Rechte.
Mit Verfügung vom 15. Oktober 2018 teilte das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt dem Beschwerdeführer mit, dass nach Auskunft des Verwaltungsgerichts Halle beabsichtigt sei, noch im Oktober 2018 dem Europäischen Gerichtshof eine auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz bezogene Auslegungsfrage zur Anwendung des § 15 Abs. 4 AGG in Verfahren wegen altersdiskriminierender Besoldung vorzulegen. Es werde daher angeregt, zu überdenken, ob das Ruhen des Zulassungsverfahrens beantragt werden solle.
Nachdem das Verfahren zum Ruhen gebracht worden war, beantragte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 26. Mai 2020 die Wiederaufnahme des Verfahrens und wies auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Februar 2020 - C-773/18 u.a. - hin. Tatsächlich habe die Gefahr bestanden, dass er und weitere betroffene Beamte und Richter am Tag der Verkündung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Hennigs und Mai - C-297/10 u.a. - am 8. September 2011 nicht hätten erkennen können, dass sie in Bezug auf ihre Besoldung diskriminiert worden seien. Dies ergebe sich daraus, dass dieses Urteil nicht die Beamtenbesoldung, sondern die tarifrechtliche Vergütung betroffen habe. Der Beklagte habe im Anschluss an die Verkündung die Auffassung vertreten, dass dieses nicht auf Beamte und Richter übertragbar sei. Nicht nur der Beschwerdeführer habe die Bedeutung des Urteils für seine eigene Besoldung nicht sofort erkannt; mehr als 60 % der Widersprüche von Beamten und Richtern des Landes Sachsen-Anhalt seien wegen Verspätung zurückgewiesen worden. Es bedürfe keiner Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt die Rechtslage in einer Weise geklärt gewesen sei, dass die Frist des § 15 Abs. 4 AGG zu laufen begonnen habe, da dies hier jedenfalls noch nicht der Fall gewesen sei.
6. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 11. Juni 2020 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Die vom Beschwerdeführer allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigten die Zulassung der Berufung nicht. Ohne Erfolg berufe er sich auf die vom Beklagten mit Schriftsatz vom 5. Juni 2018 genannten Zahlen. Wie der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 27. Februar 2020 ausgeführt habe, gehe insbesondere aus dem Umstand, dass mehrere Tausend Beamte und Richter des Landes Sachsen-Anhalt ihre Anträge innerhalb der in § 15 Abs. 4 AGG vorgesehenen Frist eingereicht haben, klar hervor, dass der im vorliegenden Fall festgesetzte Fristbeginn die Ausübung der durch § 15 Abs. 2 AGG verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht habe. Soweit der Europäische Gerichtshof weiter ausführe, dass dagegen andere Anhaltspunkte dafür sprächen, dass die Ausübung dieser Rechte übermäßig erschwert worden sei, da der Fristbeginn so festgesetzt worden sei, dass die Gefahr bestanden habe, dass sie nicht innerhalb der Zweimonatsfrist hätten erkennen können, dass sie diskriminiert worden seien, sei zwar im Rahmen der dahingehenden Überprüfung auch der vom Beschwerdeführer in den Mittelpunkt seines Zulassungsvorbringens gestellte Gesichtspunkt des hohen Anteils der als verspätet zurückgewiesenen Widersprüche zu berücksichtigen. Diesem Aspekt komme jedoch nicht das ihm vom Beschwerdeführer beigemessene maßgebliche Gewicht zu, aufgrund dessen die...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN-
Beschluss vom 10.07.2022 - BVerwG 2 WDB 11.21
...prozessualer Anforderungen führen, die durch Sachgründe nicht zu rechtfertigen wäre (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20 - NVwZ 2022, 789 Rn. 23 ff.). Dies gilt umso mehr, als nach dem durch Art. 2 des Gesetzes zur Neuregelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahre......
-
Urteil vom 19.01.2023 - BVerwG 2 WD 4.22
...erhebliche Tatsachenfeststellungen mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20 - juris Rn. 23 m. w. N. zum Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit einer Gerichtsentscheidung). 22 Dies hat der......
-
Beschluss vom 10.07.2022 - BVerwG 2 WDB 11.21
...prozessualer Anforderungen führen, die durch Sachgründe nicht zu rechtfertigen wäre (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20 - NVwZ 2022, 789 Rn. 23 ff.). Dies gilt umso mehr, als nach dem durch Art. 2 des Gesetzes zur Neuregelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahre......
-
Urteil vom 19.01.2023 - BVerwG 2 WD 4.22
...erhebliche Tatsachenfeststellungen mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. März 2022 - 2 BvR 1232/20 - juris Rn. 23 m. w. N. zum Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit einer Gerichtsentscheidung). 22 Dies hat der......