Beschluss vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11
Court | Bundesverfassungsgericht (Deutschland) |
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20161018.1bvr035411 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 - Rn. (1-77), |
Date | 18 Octubre 2016 |
Judgement Number | 1 BvR 354/11 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 354/11 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau A…, |
- Bevollmächtigte:
-
Rechtsanwälte Schnabel & Kollegen,
Brunnenstraße 19, 70372 Stuttgart
1. |
unmittelbar gegen |
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a) |
das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 12. August 2010 - 2 AZR 593/09 -, |
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b) |
das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juni 2009 - 7 Sa 84/08 -, |
|
c) |
das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 15. Oktober 2008 - 14 Ca 7300/07 -, |
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d) |
die Abmahnung der Stadt S… vom 8. August 2007 - 10.2 - St -, |
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2. |
mittelbar gegen |
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§ 7 des Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege des Landes Baden-Württemberg vom 19. März 2009 (Kindertagesbetreuungsgesetz - KiTaG, GBl.BW S. 161), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. Dezember 2015 (GBl.BW S. 1040, 1044) |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 18. Oktober 2016 einstimmig beschlossen:
- Die Beschwerdeführerin wird durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 12. August 2010 - 2 AZR 593/09 -, das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juni 2009 - 7 Sa 84/08 - und das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 15. Oktober 2008 - 14 Ca 7300/07 - in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes verletzt. Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin drei Viertel, die Bundesrepublik Deutschland ein Viertel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine der Beschwerdeführerin, die als Erzieherin an einer Kindertagesstätte in kommunaler Trägerschaft beschäftigt ist, von ihrem Arbeitgeber erteilte Abmahnung wegen Tragen eines sogenannten „islamischen Kopftuchs“ im Dienst sowie in diesem Zusammenhang ergangene arbeitsgerichtliche Entscheidungen.
1. Die insoweit maßgeblichen Vorschriften des § 7 Abs. 6 und 7 des baden-württembergischen Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege (Kindertagesbetreuungsgesetz - KiTaG) in der zum Zeitpunkt der Ausgangsentscheidungen geltenden Fassung lauteten:
„(6) 1 Fachkräfte im Sinne der Absätze 1 und 2 und andere Betreuungs- und Erziehungspersonen dürfen in Einrichtungen, auf die dieses Gesetz Anwendung findet und die in Trägerschaft des Landes, eines Landkreises, einer Gemeinde, einer Verwaltungsgemeinschaft, eines Zweck- oder Regionalverbandes stehen, keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Trägers gegenüber Kindern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden in Einrichtungen, auf die dieser Absatz Anwendung findet, zu gefährden oder zu stören. 2 Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Kindern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Fachkraft oder eine andere Betreuungs- oder Erziehungsperson gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. 3 Die Wahrnehmung des Auftrags nach Artikel 12 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg zur Erziehung der Jugend im Geiste der christlichen Nächstenliebe und zur Brüderlichkeit aller Menschen und die entsprechende Darstellung derartiger Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.
(7) Die Einstellung einer Fachkraft im Sinne der Absätze 1 und 2 oder einer anderen Betreuungs- und Erziehungsperson in Einrichtungen nach Absatz 6 Satz 1 setzt als persönliches Eignungsmerkmal voraus, dass sie die Gewähr für die Einhaltung des Absatzes 6 während der gesamten Dauer ihres Arbeitsverhältnisses bietet.“
2. Die in der Türkei geborene Beschwerdeführerin mit deutscher Staatsangehörigkeit ist staatlich anerkannte Erzieherin. Sie ist bei der im Ausgangsverfahren beklagten Stadt S., die über 34 kommunale Kindertagesstätten verfügt, seit September 2003 in Teilzeit beschäftigt. Zuvor war sie dort seit 2001 bereits als Praktikantin tätig. Die Beschwerdeführerin ist muslimischen Glaubens und trägt aus religiöser Überzeugung in der Öffentlichkeit und auch während ihrer Tätigkeit als Erzieherin ein Kopftuch.
3. Die Stadt forderte die Beschwerdeführerin auf, ihr Kopftuch während ihres Dienstes als Erzieherin abzulegen und damit der Verpflichtung aus § 7 Abs. 6 KiTaG a.F. (jetzt: § 7 Abs. 8 KiTaG) nachzukommen. Die Beschwerdeführerin folgte dem nicht. Daraufhin mahnte die Stadt sie ab.
4. Die Beschwerdeführerin verlangte erfolglos die Entfernung der Abmahnung aus ihrer Personalakte. Das Arbeitsgericht wies ihre Klage ab. Ihre hiergegen eingelegte Berufung blieb vor dem Landesarbeitsgericht ebenfalls ohne Erfolg.
Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision der Beschwerdeführerin zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus:
a) Die Beschwerdeführerin habe mit dem Kopftuchtragen das Bekundungsverbot gemäß § 7 Abs. 6 Satz 1 KiTaG a.F. bewusst und dauerhaft verletzt.
aa) Die bewusste Wahl einer religiös bestimmten Kleidung wie des Kopftuchs stelle eine religiöse Bekundung im Sinne dieser Vorschrift dar. Zur Bestimmung des Erklärungswerts einer solchen Kundgabe sei auf diejenige Deutungsmöglichkeit abzustellen, die für eine nicht unerhebliche Zahl von Betrachtern naheliege. Dabei komme es für die Deutung vor allem auf die Sicht eines objektiven Betrachters in der Situation der Kinder und Eltern einer Betreuungseinrichtung an. Ob einer bestimmten Bekleidung ein religiöser Aussagegehalt nach Art eines Symbols zukomme, hänge von der Wirkung des verwendeten Ausdrucksmittels ab, wobei alle sonstigen in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten ebenfalls zu berücksichtigen seien. Der Symbolcharakter müsse sich nicht aus dem Kleidungsstück als solchem ergeben. Eine religiöse Bekundung könne auch darin liegen, dass dem Kleidungsstück in der besonderen Art und Weise seines Tragens offensichtlich eine besondere Bedeutung zukomme, etwa weil es erkennbar aus dem Rahmen der in der Einrichtung üblichen Bekleidung falle und ausnahmslos zu jeder Zeit getragen werde. Ein solch weitgehendes Verständnis entspreche dem Zweck des gesetzlichen Bekundungsverbots. Dieses wolle religiös-weltanschauliche Konflikte in Kindertagesbetreuungseinrichtungen schon im Ansatz verhindern und die Neutralität der Einrichtung und des Trägers auch nach außen wahren. Das verbiete eine Differenzierung zwischen Kleidungsstücken, deren religiöse oder weltanschauliche Motivation offen zutage trete, und solchen, deren Tragen in der Einrichtung einen entsprechenden Erklärungsbedarf auslöse. Die Beschwerdeführerin habe auch zu keiner Zeit behauptet, sie trage das Kopftuch nicht als Ausdruck ihres Glaubens. Ihr Hinweis, das Landesarbeitsgericht habe bei der Bewertung modische oder gesundheitliche Aspekte des Kopftuchtragens berücksichtigen müssen, sei unbeachtlich. Auch ein unbefangener Beobachter werde das „islamische Kopftuch“ regelmäßig als Ausdruck eines bekundeten Religionsbrauchs und nicht als modisches Accessoire auffassen. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der zunehmenden Verbreitung solcher Kopftücher im öffentlichen Leben und der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre.
bb) Das Verhalten der Klägerin sei geeignet, die Neutralität der beklagten Stadt gegenüber Kindern und Eltern einer Kindertagesstätte und den religiösen Einrichtungsfrieden zu gefährden. Das Verbot des § 7 Abs. 6 Satz 1 KiTaG a.F. wolle schon der abstrakten Gefahr vorbeugen, konkrete Gefährdungen also gar nicht erst aufkommen lassen. Im Gesetzeswortlaut komme dies darin zum Ausdruck, dass religiöse Bekundungen bereits dann verboten seien, wenn sie „geeignet“ seien, die genannten Schutzgüter zu gefährden. Der Landesgesetzgeber habe ersichtlich darauf Bedacht nehmen wollen, dass auch Kindertagesbetreuungseinrichtungen Orte seien, an denen unterschiedliche religiöse und politische Auffassungen unausweichlich aufeinanderträfen, deren friedliches Nebeneinander der Staat zu garantieren habe. Er habe ein solches Konfliktpotential erkennbar nicht nur für den Schulbereich gesehen, sondern sei davon ausgegangen, dass es durch eine größere religiöse Vielfalt in der Gesellschaft auch in Kindertagesstätten zu einem vermehrten Potential von Konflikten - auch unter den Eltern verschiedener Glaubensrichtungen oder mit Atheisten - kommen könne. In dieser Lage könne der religiöse und weltanschauliche Frieden in einer Einrichtung schon durch die berechtigte Sorge der Eltern vor einer ungewollten religiösen Beeinflussung ihres Kindes gefährdet werden. Hierzu könne das religiös bedeutungsvolle Erscheinungsbild des pädagogischen Personals Anlass geben. Die berechtigte Sorge von Eltern könne sich in Kindertagesstätten sogar noch verstärken, da Kinder im...
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