Beschluss vom 19. Januar 2021 - 1 BvR 2671/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210119.1bvr267120 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Januar 2021 - 1 BvR 2671/20 -, Rn. 1-39, |
Judgement Number | 1 BvR 2671/20 |
Date | 19 Enero 2021 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2671/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des D… e.V., vertreten durch den Vorstand, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
gegen |
a) |
den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs |
vom 22. Oktober 2020 - 7 B 1913/20 -, |
||
b) |
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden |
|
vom 13. Juli 2020 - 6 L 753/20.WI - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Paulus,
Christ
und die Richterin Härtel
am 19. Januar 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 13. Juli 2020 - 6 L 753/20.WI - und der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Oktober 2020 - 7 B 1913/20 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Wiesbaden zurückverwiesen.
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
I.
Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde hat die Aussetzung des in Kooperation mit dem Beschwerdeführer an einigen Schulen des Landes Hessen erteilten bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterrichts und dessen Ersetzung durch einen staatlichen Islamunterricht zum Gegenstand.
1. Der Beschwerdeführer ist ein eingetragener Verein, der als Landesverband für muslimische Gemeinden in Hessen fungiert und dessen Zweck unter anderem in der Pflege und Vermittlung des islamischen Glaubens besteht.
Mit Bescheid vom 17. Dezember 2012 entsprach das Hessische Kultusministerium dem Antrag des Beschwerdeführers auf Anerkennung als Gesprächs- und Kooperationspartner für einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in Hessen, der als ordentliches Lehrfach zum Schuljahr 2013/2014 eingeführt und seitdem in Kooperation mit dem Beschwerdeführer erteilt wurde.
Mit Pressemitteilung vom 28. April 2020 erklärte das Hessische Kultusministerium, dass die Vollziehung des Bescheides vom 17. Dezember 2012 zum Ende des laufenden Schuljahres 2019/2020 ausgesetzt werde. Es bestünden Zweifel an der grundsätzlichen Eignung des Beschwerdeführers als Kooperationspartner für den bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterricht. Dies betreffe insbesondere seine hinreichende Unabhängigkeit von der Religionsbehörde des türkischen Staates. Bereits seit dem Schuljahr 2019/2020 laufe ein Schulversuch eines rein staatlichen bekenntnisfreien Islamunterrichts ohne Kooperation mit einer Religionsgemeinschaft. Er solle ab dem Schuljahr 2020/2021 auf die Standorte überführt werden, an denen der Beschwerdeführer bisher bekenntnisgebundenen Religionsunterricht angeboten habe.
2. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Land Hessen als Antragsgegner mit dem Inhalt,
„den Antragsgegner bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, wie bisher an insgesamt 51 Grundschulen sowie 12 weiterführenden Schulen in den Jahrgangsstufen 5 und 6 in Kooperation mit dem Antragsteller nach Maßgabe des Anerkennungsbescheides vom 17. Dezember 2012 islamischen Religionsunterricht zu erteilen“ (Antrag zu 1)
und
„es dem Antragsgegner zu untersagen, anstelle des in Kooperation mit dem Antragsteller bis zum Schuljahr 2019/2020 erteilten bekenntnisorientierten Islamunterrichtes staatlichen Islamunterricht zu erteilen, insbesondere durch Lehrkräfte erteilen zu lassen, denen eine vorläufige oder reguläre Lehrbefugnis (Idschaza) durch den Antragsteller erteilt wurde“ (Antrag zu 2).
Auf Nachfrage des Verwaltungsgerichts, was er mit der im Antrag zu 1) bezeichneten „Hauptsache“ meine, führte der Beschwerdeführer aus, damit sei das Hauptsacheverfahren gemeint, das sich gegen einen Verwaltungsakt richten könnte, sobald ein solcher erlassen werde. Faktisches Verwaltungshandeln, wie der vom Kultusminister beschriebene „Realakt“, sei regelmäßig Gegenstand einer Leistungs- oder Feststellungsklage. Mit dem Antrag solle eine vorläufige und keine endgültige Regelung erreicht werden. Hierauf beziehe sich der Hinweis auf eine möglicherweise notwendige Entscheidung in der Hauptsache, die derzeit noch nicht anhängig sei.
3. a) Das Verwaltungsgericht lehnte die Anträge als unzulässig ab.
Der Antrag zu 1) sei auf eine Verpflichtung des Antragsgegners „bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache“ gerichtet, ohne dass eine solche Hauptsache anhängig gemacht worden sei. Es sei Aufgabe des Antragstellers, den Streitgegenstand zu bestimmen. Mache er seinen Antrag von der Existenz eines Hauptsacheverfahrens abhängig, ohne eine solche anhängig zu machen oder in Aussicht zu stellen, könne über den Antrag nicht entschieden werden.
Der Antrag zu 2) sei unzulässig, weil der Beschwerdeführer sich nicht auf eine schutzwürdige Rechtsposition berufen könne. Der Bescheid vom 17. Dezember 2012 vermittele dem Beschwerdeführer keinen Anspruch darauf, dass Schulunterricht, der (auch) den Islam zum Gegenstand habe, ausschließlich in Kooperation mit ihm erfolgen dürfe. Vielmehr sei das Land ohne weiteres befugt, islamischen Religionsunterricht in Kooperation mit anderen islamischen Religionsgemeinschaften oder nicht bekenntnisorientierten Islamunterricht einzurichten und anzubieten. Soweit der Beschwerdeführer erreichen wolle, dass der nicht bekenntnisgebundene Islamunterricht jedenfalls nicht durch Lehrkräfte erteilt werde, denen er selbst eine Lehrbefugnis erteilt habe, fehle ihm die Antragsbefugnis, weil nicht ersichtlich sei, wie die Heranziehung dieser Lehrkräfte zu anderen Unterrichtsfächern den Beschwerdeführer in seinen eigenen Rechten sollte verletzen können.
b) Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof unter anderem aus folgenden Gründen zurück.
Der Antrag zu 1) sei nach § 123 Abs. 5 VwGO unstatthaft, weil das Begehren des Beschwerdeführers in der Hauptsache nach seinem eigenen Dafürhalten gegen einen Verwaltungsakt gerichtet sei und deshalb über eine Anfechtungsklage erfolgen müsse. In einem solchen Fall sei nur Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Dem stehe nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer gegenüber dem Verwaltungsgericht ausgeführt habe, faktisches Verwaltungshandeln wie der vom Kultusminister beschriebene „Realakt“ sei regelmäßig Gegenstand einer Leistungs- oder Feststellungsklage. Denn diese Ausführungen seien als allgemeiner Hinweis formuliert und der Beschwerdeführer bringe nicht im Ansatz zum Ausdruck, dass er sich mit der im Antrag zu 1) genannten „Hauptsache“ auf eine Klage gegen einen Realakt beziehe...
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