Beschluss vom 21. September 2020 - 1 BvR 2146/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200921.1bvr214620 |
Judgement Number | 1 BvR 2146/20 |
Date | 21 Septiembre 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2146/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn K…, |
- Bevollmächtigter:
… -
gegen |
a) |
den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. September 2020 - 2 B 2254/20 -, |
b) |
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 8. September 2020 - 4 L 2946/20.GI - |
h i e r: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth,
die Richterin Britz
und den Richter Radtke
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 21. September 2020 einstimmig beschlossen:
- Dem Beschwerdeführer wird für das Verfahren über die einstweilige Anordnung Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt … aus … beigeordnet
- Die aufschiebende Wirkung der Klage des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom 31. August 2020 in der Gestalt des Bescheides vom 2. September 2020 (Verwaltungsgericht Gießen - 4 K 2947/20.GI -) wird hinsichtlich Ziffer 3 Buchstaben a) und d) des Bescheides vom 31. August 2020 ab dem 24. September 2020 wiederhergestellt
- Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 112, 284 ; 121, 1 ; stRspr). Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 Abs. 1 BVerfGG sind die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. BVerfGE 111, 147 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7).
2. Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang geboten. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs ist offensichtlich begründet, soweit der Verwaltungsgerichtshof auf die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den die Gewährung einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts den Eilantrag (auch) hinsichtlich der Auflagen unter Ziffer 3 Buchstaben a) und d) des Bescheides vom 31. August 2020 abgelehnt hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat das Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers in dem Verfahren des fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes in einer die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzenden Weise interpretiert. Ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens würde das von dem Beschwerdeführer verfolgte Begehren nach effektivem – rechtzeitigem – verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz gegen die eine Durchführung des von ihm als Versammlung angemeldeten Protestcamps beschränkenden Auflagen mit hoher Wahrscheinlichkeit infolge Zeitablaufs vereiteln. Unter diesen Umständen läge in der Nichtgewährung von einstweiligem Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.
a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert einen umfassenden gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung rechtlich geschützter Interessen des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 ; 25, 352 ; 51, 176 ; 54, 39 ; 67, 43 ; 96, 27 ). Diese Garantie effektiven Rechtsschutzes gewährleistet nicht nur formal die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern gebietet auch die Effektivität des damit verbundenen Rechtsschutzes, das heißt einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle in allen von der Prozessordnung jeweils zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl. BVerfGE 113, 273 ; 129, 1 ). Der Zugang zu Gericht darf daher nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 35, 263 ; 40, 272 ; 77, 275 ; 151, 173 ).
Insbesondere haben die Gerichte vor diesem Hintergrund das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtsschutzsuchenden...
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