Beschluss vom 22. März 2022 - 1 BvR 2868/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rs20220322.1bvr286815 |
Date | 22 Marzo 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 2868/15 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 22. März 2022 - 1 BvR 2868/15 -, Rn. 1-151, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 22. März 2022
1 BvR 2868/15
1 BvR 2886/15
1 BvR 2887/15
1 BvR 354/16
(Übernachtungsteuer)
- 1. Gegenstand der Aufwandsteuer (Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG) ist die Verwendung von Einkommen für den persönlichen Lebensbedarf. Als Aufwand gilt dabei ein äußerlich erkennbarer Konsum, für den finanzielle Mittel verwendet werden und der typischerweise Ausdruck und Indikator wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ist, ohne dass es darauf ankäme, von wem und mit welchen Mitteln dieser Konsum finanziert wird und welchen Zwecken er des Näheren dient (Bestätigung von BVerfGE 65, 325 <347>; 114, 316 <334>). Eine verfassungsrechtliche Pflicht, von der Aufwandbesteuerung abzusehen, kann sich nicht aus der Zuständigkeitsnorm des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG, sondern allenfalls aus den Grundrechten ergeben. Daher kann auch eine beruflich veranlasste Übernachtung Gegenstand der Aufwandsteuer sein.
- 2. a) Das Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG schränkt das Steuererfindungsrecht der Länder über die örtlichen Verbrauch- und Auf-wandsteuern ein. Für die Beurteilung der Gleichartigkeit kommt es auf eine Gesamtbetrachtung der konkreten Ausgestaltung einer Aufwandsteuer einerseits, eventuell gleichartiger Bundessteuern andererseits an. Eine weitreichende Sperrwirkung für das Besteuerungsrecht von Ländern und Kommunen ist damit nicht verbunden.
- b) Eine Steuer auf entgeltliche Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben ist bundesgesetzlich geregelten Steuern nicht gleichartig, weil sie weder – wie die Umsatzsteuer – auf alle Aufwendungen gleichermaßen erhoben wird, noch aus einer Steuerquelle schöpft, die der Bund bereits einer besonderen Besteuerung unterzogen hat.
- 3. Der Gesetzgeber kann beruflich veranlasste Übernachtungen von der Aufwandbesteuerung ausnehmen, muss dies aber nicht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2868/15 -
- 1 BvR 2886/15 -
- 1 BvR 2887/15 -
- 1 BvR 354/16 -
über
die Verfassungsbeschwerden
I. |
der Frau (…), |
- Bevollmächtigte:
(…) -
1. |
unmittelbar gegen |
|
a) |
das Urteil des Bundesfinanzhofs |
|
b) |
das Urteil des Finanzgerichts Hamburg |
|
2. |
mittelbar gegen |
|
das Hamburgische Kultur- und Tourismustaxengesetz (HmbKTTG) |
- 1 BvR 2868/15 -,
II. |
der (…)-AG, vertreten durch: (…), |
- Bevollmächtigte: 1. (…)
2. (…) -
1. |
unmittelbar gegen |
|
a) |
das Urteil des Bundesfinanzhofs |
|
b) |
das Urteil des Finanzgerichts Hamburg |
|
c) |
die Einspruchsentscheidung der Freien und Hansestadt Hamburg |
|
d) |
die Steueranmeldung der Kultur- und Tourismustaxe |
|
2. |
mittelbar gegen |
|
das Hamburgische Kultur- und Tourismustaxengesetz (HmbKTTG) |
- 1 BvR 2886/15 -,
III. |
der (…)-GmbH, vertreten durch: (…), |
- Bevollmächtigte: 1. (…)
2. (…) -
Beigetretener: (…), |
- Bevollmächtigter: (…) -
1.unmittelbar gegen |
||
a) |
das Urteil des Bundesfinanzhofs |
|
b) |
das Urteil des Finanzgerichts Bremen |
|
c) |
die Einspruchsentscheidung des Magistrats der Seestadt Bremerhaven |
|
d) |
die Steueranmeldung zur Tourismusabgabe - Citytax |
|
2.mittelbar gegen |
||
das Bremische Gesetz über die Erhebung einer Tourismusabgabe |
- 1 BvR 2887/15 -,
IV. |
der (…)-GmbH, vertreten durch: (…), |
- Bevollmächtigte: 1. (…)
2. (…) -
1. |
unmittelbar gegen |
|
a) |
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts |
|
b) |
das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg |
|
2. |
mittelbar gegen |
|
die Satzung über die Erhebung einer Übernachtungsteuer |
- 1 BvR 354/16 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel
am 22. März 2022 beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Erhebung einer Steuer auf entgeltliche Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben in der Freien und Hansestadt Hamburg, in der Freien Hansestadt Bremen sowie in der Stadt Freiburg im Breisgau.
I.
Beginnend mit der Stadt Weimar hat seit dem Jahr 2005 eine Vielzahl von Städten und Gemeinden unter Berufung auf Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG eine Steuer auf entgeltliche Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben im Gemeindegebiet eingeführt. Diese so genannte „Übernachtungsteuer“, „Hotelsteuer“ oder „Bettensteuer“ (im Folgenden: Übernachtungsteuer) beläuft sich zumeist auf einen niedrigen Prozentsatz des Übernachtungspreises (Nettoentgelt) und wird in der Regel vom Übernachtungsgast bei der Buchung oder der Anmeldung im Beherbergungsbetrieb bezahlt.
Seitdem der Bundesgesetzgeber zur Entlastung des Beherbergungsgewerbes mit dem Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) vom 22. Dezember 2009 (BGBl I S. 3950) zum 1. Januar 2010 den Umsatzsteuersatz für die unternehmerische Vermietung von Wohn- und Schlafräumen auf sieben Prozent ermäßigt hat (§ 12 Abs. 2 Nr. 11 Umsatzsteuergesetz – UStG), wird nunmehr eine Übernachtungsteuer von den Ländern Berlin, Bremen, Hamburg sowie mehreren Städten und Gemeinden im Bundesgebiet erhoben, darunter von der Stadt Freiburg im Breisgau.
Die Übernachtungsteuern galten, soweit ersichtlich, zunächst ausnahmslos für alle entgeltlichen Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben. Mit Urteil vom 11. Juli 2012 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass beruflich veranlasste Übernachtungen von der Kultur- und Tourismusförderabgabe für Übernachtungen der Stadt Trier aus verfassungsrechtlichen Gründen auszunehmen seien (vgl. BVerwGE 143, 301 <302 ff. Rn. 11 ff.>).
1. a) In der Freien und Hansestadt Hamburg passte die Bürgerschaft im laufenden Gesetzgebungsverfahren den Entwurf eines Hamburgischen Kultur- und Tourismustaxengesetzes (HmbGVBl 2012 S. 503) vom 5. Juni 2012, der noch keinen Ausnahmetatbestand für beruflich veranlasste Übernachtungen vorsah (vgl. Hamburgische Bürgerschaft, Drucks 20/4386, S. 3), an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an (vgl. Hamburgische Bürgerschaft, Drucks 20/5840, S. 7). Die Bürgerschaft beschloss das Hamburgische Kultur- und Tourismustaxengesetz vom 4. Dezember 2012 (HmbKTTG) mit dem Ausnahmetatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 4 HmbKTTG.
Die hier maßgeblichen Vorschriften des zum 1. Januar 2013 in Kraft getretenen Hamburgischen Kultur- und Tourismustaxengesetzes lauten wie folgt:
§ 1 Steuergegenstand
(1) 1 Der Steuer unterliegt der Aufwand für die entgeltliche Übernachtung einer Person in der Freien und Hansestadt Hamburg in einem Beherbergungsbetrieb. 2 Als Übernachtung gilt bereits die entgeltliche Erlangung der Beherbergungsmöglichkeit unabhängig von der tatsächlichen Inanspruchnahme. 3 Der Übernachtung steht die Nutzung der Beherbergungsmöglichkeit, ohne dass eine Übernachtung erfolgt, gleich, sofern hierfür ein gesonderter Aufwand betrieben wird. 4 Ausgenommen von der Steuer sind Übernachtungen, die für eine berufliche oder betriebliche Tätigkeit des Übernachtungsgastes zwingend erforderlich sind. 5 Der Betreiber des Beherbergungsbetriebes hat die zwingende Erforderlichkeit einer Übernachtung für eine berufliche oder betriebliche Tätigkeit des Übernachtungsgastes durch geeignete Belege nachzuweisen.
(2) 1 Als Beherbergungsbetrieb gilt jeder Betrieb, bei dem Tätigkeiten zur Bereitstellung von kurzzeitigen...
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