Beschluss vom 24. Mai 2023 - 1 BvR 605/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230524.1bvr060523 |
Judgement Number | 1 BvR 605/23 |
Date | 24 Mayo 2023 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. Mai 2023 - 1 BvR 605/23 -, Rn. 1-41, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 605/23 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der (…)-GmbH & Co. KG, vertreten durch die (…)-GmbH, vertreten durch den (…), |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 28. März 2023 - 27 O 160/23 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth,
die Richterin Härtel
und den Richter Eifert
am 24. Mai 2023 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 28. März 2023 - 27 O 160/23 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.
- Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde und ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wendet sich die Beschwerdeführerin gegen eine durch das Landgericht Berlin im Ausgangsverfahren erlassene einstweilige Verfügung, mit der der Beschwerdeführerin auf Antrag der Band (…) (im Folgenden: Antragstellerin) und des Sängers (…) (im Folgenden: Antragsteller) eine Berichterstattung in dem von ihr verantworteten online-Portal www.(...).de untersagt wurde.
1. Die Beschwerdeführerin ist Diensteanbieterin des online-Portals www.(...).de, auf dem sie am 12. März 2023 über die Absage des Rappers (…) berichtete, als Vorgruppe für die Band (…) aufzutreten, deren Sänger (…) ist.
a) Der Absage voraus gingen im Jahr 2022 Veröffentlichungen unbekannter Personen, die auf der Internetseite (…).org unter dem Profilnamen „(…)“ in den sozialen Netzwerken Twitter und Instagram zwischen Juni und August 2022 anonym Gewalt- und Missbrauchsvorwürfe gegenüber der Antragstellerin und dem Antragsteller erhoben, nach denen es gegen den Antragsteller beziehungsweise Mitglieder der Antragstellerin Anschuldigungen sexualisierter Gewalt und des Machtmissbrauchs gebe und der Antragsteller „ein Täter“ sei. Über die Vorwürfe berichteten im Jahr 2022 deutschlandweit zahlreiche Medien.
b) Während die ursprünglichen Vorwürfe inzwischen gelöscht sind, nahm die Antragstellerin – und nimmt sie weiterhin – zu diesen auf Instagram wie folgt Stellung:
„Viele von euch haben mitbekommen, dass im Netz diffuse Anschuldigungen und Gerüchte gegen (…) und die Band vorgebracht wurden. Als die Anschuldigungen aufkamen, waren wir zunächst überfordert.
Wie geht man mit einer anonymen Internetseite um, die sich zuvor nie bei uns gemeldet hat und bei der man den Eindruck hat, dass es in erster Linie um Zerstörung geht? So viele Gerüchte, so wenig Wissen, so viel Internet. Allein, dass Leute behaupten, dass (…) und (…) wegen solcher Vorwürfe die Band verlassen haben, ist totaler Quatsch.
Der erste Impuls, den wir hatten, als die Vorwürfe gegen uns auftauchten, war einfach nur zu sagen – ‚Lasst uns in Ruhe! Das stimmt alles nicht.‘ Aber so einfach wollen und können wir es uns bei dem Thema nicht machen.“
c) Unter dem Titel „Kein Voract für (…): (…) sagt Auftritte ab“ veröffentlichte die Beschwerdeführerin am 10. März 2023 folgenden Beitrag (im untersagten Umfang unterstrichen):
„Erst Anfang März verkündete die Band (…), dass sie neun Open-Air-Shows spielen werden. Bei dreien sollte der Rapper (…) als Voract auftreten. Der Musiker sagte die Auftritte jedoch kurz nach der Verkündung ab - wegen Vorwürfen von sexualisierter Gewalt gegen den Frontsänger der Band.
Eigentlich wollten sie zusammen in drei von neun Städten im Sommer 2023 auf Tour gehen: Die Band (…) und der Rapper (…). Doch kurz nach der Verkündung, ruderte der Voract wieder zurück. In seiner Instagram-Story erklärte (…), wie (…) mit bürgerlichen Namen heißt, die Zusammenarbeit mit (…) für beendet. Grund dafür sind Vorwürfe des Instagramaccounts ‚(…)‘.
Dieser beschrieb den Frontmann (…), genannt ‚(…)‘, im letzten Jahr in einem Instagram-Post als ‚gewalttätig‘ und ‚narzisstisch‘. Sie beschuldigten ihn zudem, sexuell übergriffig geworden zu sein und seine Macht dafür ausgenutzt zu haben. Mittlerweile ist ihre Instagramseite nicht mehr online. Nach den Vorwürfen gegen (…) solidarisierten sich unter anderem der Verein (…) und die (...) aus Rostock mit den Opfern. ‚Wir glauben den Betroffenen und stehen an ihrer Seite!‘, schrieben Beteiligte der (…) ‚(…)‘ auf Instagram.
(…): ‚Ich bin da so unreflektiert rangegangen‘
Nach Aussagen von (…) seien ihm die Vorwürfe gegen die Band erst wieder bewusst geworden, als er Kritik für seine Zusage seitens seiner Fans erhielt. ‚Ich bin da so unreflektiert rangegangen, wie man nur hätte rangehen können‘, schreibt er auf Instagram. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Thematik, sei er zu dem Entschluss gekommen, nicht spielen zu wollen. ‚Klar ist es schwierig auf anonyme Anschuldigungen im Internet zu reagieren‘, macht der Musiker deutlich. Seiner Meinung nach fehle es seitens der Band dennoch an der nötigen Auseinandersetzung mit den Anschuldigungen.
[Screenshot eines Instagram-Posts von (…) mit folgendem Inhalt:]
‚Vor einiger Zeit wurde ich über mein Management angefragt bei einigen Shows der kommenden Tour von (…) Support zu spielen. Ich habe das ohne weiter darüber nachzudenken zugesagt. Mir war zum Zeitpunkt der Zusage die Tragweite der Vorwürfe gegen die Band nicht bekannt und die Vorwürfe als solches überhaupt nicht mehr präsent. Sie wurden mir erst wieder bewusst, als ich bekannt gegeben habe, dass ich da spiele. Ich bin da so unreflektiert rangegangen, wie man nur hätte rangehen können. Vollkommen unreflektiert. Dafür entschuldige ich mich.
Ich habe mich die letzten Tage intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass ich die Shows nicht spielen will und werde. Dabei kann und will ich mich nicht als Richter aufspielen und über die verschiedenen Tatkomplexe urteilen. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir einen korrekten Umgang mit solchen Vorwürfen brauchen und sie ernst nehmen müssen. Klar ist es schwierig auf anonyme Anschuldigungen im Internet zu reagieren, aber auch hier geht es um einen öffentlich transparenten Willen zur Aufarbeitung und dazu kommt mir von der Band zu wenig.
Aktuell gibt es für mich keinen anderen Weg als diesen.
Euer (…)‘
Die Musik des 29-Jährigen zeichnet sich unter anderem durch feministische Texte aus. In dem Musikvideo zu seinem Song ‚(…)‘ übernahm die feministisch-aktivistische Fotografin ‚(…)‘ die Hauptrolle. Auch der Liedtext setzt sich mit den Problemen patriarchaler Strukturen auseinander. Zeilen wie ‚(…)‘ machen auf Missstände aufmerksam und verdeutlichen die Objektifizierung und Sexualisierung von weiblich gelesenen Personen. Daher zeigten sich einige Fans verwundert über die Zusage, mit (…).
Band wies die Vorwürfe zurück
Die Band (…) wies im vergangenen Jahr die Vorwürfe der sexualisierten Gewalt gegen ihren Frontsänger zurück: ‚Es gibt keine Fälle der sexualisierten Gewalt, die von uns ausging und derer wir uns bewusst sind.‘ Nichtsdestotrotz wollten die (…) Musiker einige Änderungen vornehmen. ‚Wir können einfach nicht behaupten, dass wir noch nie respektlos, peinlich oder sexistisch gegenüber Frauen gewesen sind‘, erklärten sie in ihrem Instagram-Statement. Zu der Absage von (…) äußerten sich die Mitglieder bisher noch nicht öffentlich.“
2. Einem außergerichtlichen Unterlassungsbegehren der Antragsteller kam die Beschwerdeführerin nicht nach.
a) Durch Schreiben von Montag, dem 13. März 2023, forderten die Antragsteller die Beschwerdeführerin zur Abgabe strafbewehrter Unterlassungserklärungen bis spätestens am Folgetag, Dienstag, 14. März 2023, um 12:00 Uhr, auf. Mangels Reaktion der Beschwerdeführerin wiederholten die Antragsteller ihre Aufforderung unter Setzung einer Nachfrist bis Montag, 20. März 2023, 16:00 Uhr, wobei sie ihrem Schreiben den Entwurf eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beifügten.
b) Durch Schreiben vom 20. März 2023 wies die Beschwerdeführerin das Unterlassungsbegehren zurück.
aa) Sie verwies zunächst darauf, dass die Antragsteller auf Instagram weiterhin und unwahr mit (…) als Vorband würben, und dass sie zu den Vorwürfen weiterhin durch den oben genannten Beitrag auf Instagram Stellung nähmen. Da die Vorwürfe und deren Zurückweisung 2022 ein großes Medienecho ausgelöst hätten und (…) seine Absage öffentlich begründet habe, sei es ihr nicht möglich, über die Gründe dieser Absage zu berichten, ohne gleichzeitig über die Vorwürfe aus dem Jahr 2022 zu informieren, zu denen sich die Antragsteller öffentlich geäußert hätten und weiterhin äußerten. Über die Stellungnahme der Antragsteller habe die Beschwerdeführerin überdies ebenfalls berichtet wie auch darüber, dass die Vorwürfe nicht mehr online seien. Die Vorwürfe habe sie sich daher...
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