Beschluss vom 25. August 2020 - 2 BvR 640/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200825.2bvr064020 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. August 2020 - 2 BvR 640/20 -, Rn. 1-42, |
Date | 25 Agosto 2020 |
Judgement Number | 2 BvR 640/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 640/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…, |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 12. März 2020 - 2 B 19/20 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Kessal-Wulf,
den Richter Maidowski
und die Richterin Wallrabenstein
am 25. August 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 12. März 2020 - 2 B 19/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen zurückverwiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Die Freie Hansestadt Bremen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die im Wege des Eilrechtsschutzes ergangene obergerichtliche Bestätigung seiner Ausweisung nach Mazedonien, die aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers wegen gefährlicher Körperverletzung angeordnet wurde.
1. Der 27-jährige Beschwerdeführer ist mazedonischer Staatsangehöriger. Er wurde in Mazedonien geboren und gehört der dortigen albanischen Minderheit an. Seit seinem fünften Lebensjahr lebt er in Deutschland. Seit 2011 ist er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Seine Eltern, Großeltern, Geschwister, Cousins und Cousinen leben ebenfalls in Deutschland (und in der Schweiz). Er verfügt über einen Realschulabschluss und eine Ausbildung zum Parkett- und Bodenleger. Nach der Ausbildung war er für drei Jahre in seinem Ausbildungsbetrieb angestellt. Im Jahr 2015 hat er sich mit einem Parkettverlegebetrieb selbstständig gemacht. Zu dem Betrieb gehören ein Firmenfahrzeug, Werkzeuge sowie angemietete Betriebs- und Lagerräume. Der Beschwerdeführer hat Albanisch-Kenntnisse, die mazedonische Sprache beherrscht er hingegen kaum. Er hat eine Verlobte in Mazedonien, zu der derzeit jedoch kein Kontakt besteht. Neben seiner Verlobten leben noch Großonkel und Großtanten des Beschwerdeführers in Mazedonien; diese kennt er nach eigenen Angaben flüchtig von jährlichen Urlaubsbesuchen in Mazedonien.
2. Der Beschwerdeführer ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Im Jahr 2014 wurde er wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt; er hatte ein Päckchen Marihuana bei sich geführt. Im März 2018 verurteilte das Landgericht Bremen den Beschwerdeführer nach knapp zehnmonatiger Untersuchungshaft wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (im Folgenden: Anlasstat). Der Beschwerdeführer hatte den Geschädigten im Mai 2017 in einem Einkaufszentrum mit zwei Messerstichen verletzt und anschließend verfolgt. Das Einkaufszentrum wurde in der Folge evakuiert. Der Tat, an der der Bruder des Beschwerdeführers sowie ein Bekannter als Mittäter beteiligt waren, war ein langjähriger Konflikt zwischen dem Beschwerdeführer und dem Geschädigten vorangegangen, der damit begonnen hatte, dass der Geschädigte im Jahr 2015 mutmaßlich den PKW des Beschwerdeführers aufgebrochen und ihn tätlich angegriffen hatte. Am Tattag hatte der Geschädigte den Beschwerdeführer in dem Einkaufszentrum angesprochen, um die Rücknahme der vom Beschwerdeführer wegen der Tat aus 2015 erstatteten Strafanzeige zu erreichen. Nachdem ein Mittäter dem Geschädigten eine „Kopfnuss“ und sodann der mitangeklagte Bruder des Beschwerdeführers dem Geschädigten mit einem Messer eine Stichwunde am Unterarm zugefügt hatte, stach der Beschwerdeführer mit einem Einhandmesser zweimal auf den Geschädigten ein. Dieser erlitt dadurch eine ca. 3,5 cm tiefe, stark blutende Wunde in der Flanke.
Die Haftstrafe wird größtenteils im offenen Vollzug vollstreckt, während dessen der Beschwerdeführer seinen Handwerksbetrieb zunächst fortführte. Laut Vollzugs- und Eingliederungsplan der Justizvollzugsanstalt Bremen zeigt der Beschwerdeführer ein positives Vollzugsverhalten (wird ausgeführt). Weiter heißt es, die Straftat könne klar als Beziehungstat gewertet werden. Somit sei eine Wiederholungsgefahr unwahrscheinlich. Gleichwohl solle die Tat aber in einem Rückfallvermeidungsplan aufgearbeitet werden. Für den Beschwerdeführer bestehe eine günstige Legalprognose.
3. Nach Anhörung des Beschwerdeführers wies die Ausländerbehörde der Freien Hansestadt Bremen den Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf § 53 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit § 54 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) mit Bescheid aus August 2019 aus dem Bundesgebiet aus, ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von vier Jahren an und drohte dem Beschwerdeführer die Abschiebung nach Mazedonien an.
4. Gegen den Bescheid erhob der Beschwerdeführer Klage zum Verwaltungsgericht Bremen (im Folgenden: Verwaltungsgericht), woraufhin die Ausländerbehörde unter Verweis auf die Gefahr einer erneuten Straftatbegehung, das außerordentliche Gewicht der Anlasstat sowie generalpräventive Erwägungen die sofortige Vollziehung der Ausweisung anordnete.
5. Auf Antrag des Beschwerdeführers stellte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Ausweisungs- und Abschiebungsbescheid mit Beschluss aus Januar 2020 wieder her. Die Erfolgsaussichten der Hauptsache seien offen. Von dem Beschwerdeführer gehe zwar eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus, da mit einer erneuten Begehung von Gewaltdelikten ernsthaft zu rechnen sei. Es bestehe zudem ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, dem ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüberstehe. Ob die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr allerdings so hoch sei, dass sie angesichts seiner nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Integration und seines guten Vollzugsverhaltens eine Ausweisung rechtfertige, bedürfe weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren, insbesondere durch persönliche Befragung des Beschwerdeführers. Im Rahmen der Interessenabwägung überwiege das Aussetzungsinteresse des Beschwerdeführers.
6. Auf Beschwerde der Ausländerbehörde hob das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen (im Folgenden: Oberverwaltungsgericht) mit hier angegriffenem Beschluss vom 12. März 2020 den Beschluss des Verwaltungsgerichts auf und lehnte den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ab. Die sofortige Vollziehung sei formell ordnungsgemäß angeordnet worden; die Ausweisung sowie die Abschiebungsandrohung erwiesen sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig; ein besonderes Vollzugsinteresse liege vor. Das Verwaltungsgericht sei auf der Grundlage von § 53 Abs. 1 AufenthG zutreffend davon ausgegangen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit gefährde. Darüber hinaus sei die Ausweisung verhältnismäßig.
a) Es bestehe eine ernsthafte Wiederholungsgefahr. Zugunsten des Beschwerdeführers habe das Verwaltungsgericht richtigerweise berücksichtigt, dass dieser teilweise geständig und nur einmal und unwesentlich vorbestraft gewesen sei. Wie auch das Verwaltungsgericht gehe der Senat jedoch davon aus, dass ein positives Vollzugsverhalten für das Verhalten nach der Haft nur eine begrenzte Aussagekraft habe und nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswechsel schließen lasse (Verweis auf Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 28. Oktober 2019 - 2 B 228/19 -, juris, Rn. 17). Weiter habe das Verwaltungsgericht zutreffend darauf verwiesen, dass die gelungene wirtschaftliche Integration des Beschwerdeführers nicht gegen eine Wiederholungsgefahr spreche, da er...
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