Beschluss vom 26. April 2023 - 1 BvR 718/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230426.1bvr071823 |
Judgement Number | 1 BvR 718/23 |
Date | 26 Abril 2023 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 2023 - 1 BvR 718/23 -, Rn. 1-32, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 718/23 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der (…), vertreten durch den Vorstand, |
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. März 2023 - 27 O 167/23 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth,
die Richterin Härtel
und den Richter Eifert
am 26. April 2023 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. März 2023 - 27 O 167/23 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.
- Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde und ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wendet sich die Beschwerdeführerin gegen eine durch das Landgericht Berlin erlassene einstweilige Verfügung, mit der der Beschwerdeführerin der Abdruck einer Gegendarstellung in der von ihr verlegten (…)-Zeitung aufgegeben wurde.
1. Die Beschwerdeführerin verlegt die deutschlandweit erscheinende Tageszeitung (…)-Zeitung, deren Internetseite www.(...).de sie ebenfalls verantwortet. Der Antragsteller des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Antragsteller) ist ein ehemaliger Profi-(…)-Spieler. Unter dem Haupttitel „(…)‘ fiese Attacke auf (…)“ berichtete die Beschwerdeführerin am Montag, dem 20. März 2023, sowohl in der Print- wie in der online-Ausgabe der (…)-Zeitung darüber, von Gründen erfahren zu haben, weshalb ehemalige Partnerinnen des Antragstellers öffentlich nicht über diesen redeten. Ein „Vertrauter“ habe geäußert „(…) legt seinen Frauen Verschwiegenheitserklärungen hin, die sie unterschreiben müssen. Damit sichert er sich ab.“.
2. Einem außergerichtlichen Gegendarstellungsverlangen des Antragstellers kam die Beschwerdeführerin nicht nach.
a) Durch ihr am Folgetag, dem 21. März 2023, um 16:26 Uhr übermitteltes Schreiben ließ der Antragsteller die Beschwerdeführerin zur Veröffentlichung von Gegendarstellungen in beiden Medien auffordern, in denen er erklärte „Hierzu stelle ich fest: Ich habe weder meine Ex-Frau (…) noch (…) eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben lassen.“. Für die Bestätigung, die geforderten Gegendarstellungen zu veröffentlichen, wurde der Beschwerdeführerin eine Frist bis Donnerstag, 23. März 2023, 9.00 Uhr, gesetzt.
b) Am Tag des Fristablaufs wies die Beschwerdeführerin die Ansprüche des Antragstellers zurück, wobei sie hinsichtlich des online-Gegendarstellungsverlangens bereits dessen fehlende Schriftform monierte, und beiden Verlangen ein berechtigtes Interesse absprach, da die beanstandete Äußerung wahr sei. Der Antragsteller habe in der Vergangenheit mindestens eine Partnerin vor der Eheschließung dazu aufgefordert, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. Die Beschwerdeführerin verfüge über entsprechende Glaubhaftmachungsmittel, die sie in einem etwaigen Verfügungsverfahren vorlegen könne und werde.
3. In der Folgewoche erwirkte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Beschwerdeführerin.
a) Am Dienstag, den 28. März 2023, beantragte er beim Landgericht Berlin den Erlass einer mit den zuvor übermittelten Gegendarstellungsverlangen übereinstimmenden einstweiligen Verfügung. Seinem Antrag fügte er das Zurückweisungsschreiben der Beschwerdeführerin von Donnerstag, dem 23. März 2023, bei.
b) Durch Beschluss von Donnerstag, dem 30. März 2023, erließ das Landgericht Berlin „wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ die einstweilige Verfügung antragsgemäß und führte als Begründung aus: „Die einstweilige Verfügung war aus den Gründen der verbundenen Antragsschrift nebst Anlagen zu erlassen. Die Kammer hat bei der Abfassung des Tenors von dem ihr nach § 938 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht.“.
c) Der Beschluss des Landgerichts wurde der Beschwerdeführerin im Parteibetrieb am 12. April 2023 zugestellt. Hiergegen legte sie durch Schriftsatz vom Folgetage Widerspruch ein und beantragte, die einstweilige Verfügung aufzuheben und den Antrag auf ihren Erlass zurückzuweisen. Ein Termin zur mündlichen Verhandlung wurde für den 27. April 2023 bestimmt.
4. Am 14. April 2023 hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde erhoben und hiermit verbunden beantragt, den angegriffenen Beschluss des Landgerichts einstweilen, jedenfalls bis zur mündlichen Verhandlung über den Widerspruch außer Vollzug zu setzen.
a) Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 103 Abs. 1 GG, insbesondere ihres grundrechtsgleichen Rechts auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Auf eine Anhörung der Beschwerdeführerin habe das Landgericht schon insoweit nicht verzichten dürfen, als der Antragsteller bis zur gerichtlichen Antragsstellung am 28. März 2023 mit einem Zeitraum von fünf Tagen beziehungsweise 111 Stunden ein Mehrfaches jener Frist habe verstreichen lassen, die er der Beschwerdeführerin durch außergerichtliches Schreiben vom 21. März 2023, 16:26 Uhr, im Umfang von rund 40 Stunden bis zum 23. März 2023, 9:00 Uhr, gesetzt habe. Zudem sei der gerichtliche Antrag sowohl vom Umfang (sieben Seiten) wie vom Inhalt (vier Seiten) her über das Aufforderungsschreiben hinausgegangen und habe sich auch mit dem Zurückweisungsschreiben der Beschwerdeführerin vom 23. März 2023 auseinandergesetzt. Ferner habe die Beschwerdeführerin in Letzterem darauf hingewiesen, dass ihr geeignete Glaubhaftmachungsmittel vorlägen. Es wäre ihr auch ohne Weiteres möglich gewesen, diese wie angekündigt bei Gericht vorzulegen, zumal das Landgericht ohnehin erst zwei Tage nach Antragseingang entschieden habe. Damit missachte das Landgericht Berlin erneut die aus dem grundrechtsgleichen Recht der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen grundsätzlich und genüge überdies nicht den mit ihrer Verfahrenshandhabung einhergehenden Darlegungsanforderungen. Verstöße der Berliner Pressekammer gegen das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit hätten geradezu System. Durch die Versagung einer Entscheidung zur Sache entstehe der Beschwerdeführerin auch ein besonders schwerer Nachteil, da ihre Rechtsbeeinträchtigung in Gestalt eines vollstreckbaren Gegendarstellungstitels fortdauere. Auch ihrem Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der einstweiligen Verfügung sei daher stattzugeben.
b) Dem Begünstigten des Ausgangsverfahrens sowie der Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung Berlin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt. Die Akten des Ausgangsverfahrens waren beigezogen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung...
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