Urteil Nr. B 14 AS 11/18 R des Bundessozialgericht, 2019-01-30

Judgment Date30 Enero 2019
ECLIDE:BSG:2019:300119UB14AS1118R0
Judgement NumberB 14 AS 11/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - angemessene Unterkunftskosten - schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers - Vergleichsraumbildung - Rückschreibung in die Zeit vor Aufstellung
Leitsätze

Die Rückschreibung eines Konzepts zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft in die Zeit vor der Aufstellung des Konzepts ist unzulässig.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 13. September 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Umstritten ist nur noch die Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für Unterkunft für Juli 2011, insbesondere im Hinblick auf die Rückschreibung eines schlüssigen Konzepts für 2012.

Der 1990 geborene Kläger zu 1 ist der Sohn der 1964 geborenen Klägerin zu 2. Sie bewohnten in Schönebeck (Salzlandkreis) eine 68,5 qm große Wohnung, für die monatlich zu zahlen waren 299 Euro Nettokaltmiete, 98,98 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 113 Euro Heizkostenvorauszahlung, insgesamt 510,98 Euro. Im August 2010 teilte die Rechtsvorgängerin des beklagten Jobcenters den Klägern mit, angemessen seien pro Quadratmeter bis zu 4 Euro für die Nettokaltmiete und 1,10 Euro für die Betriebskosten. Für die Zeit vom 1.2. bis 31.7.2011 bewilligte der Beklagte den Klägern ua im Hinblick auf eine Erwerbstätigkeit der Klägerin vorläufig Alg II und erkannte als Bedarf für eine 60 qm-Wohnung monatlich eine Nettokaltmiete von 240 Euro, eine Betriebskostenvorauszahlung von 66 Euro sowie schließlich die tatsächlichen Heizkosten von 113 Euro an (Bescheide vom 20.1.2011 und 14.4.2011; Widerspruchsbescheid vom 20.6.2011). Für Juli 2011 bewilligte er unter Anerkennung dieser Bedarfe dem Kläger 168,49 Euro und der Klägerin 193,01 Euro Alg II endgültig (Bescheid vom 25.6.2011).

Das SG hat den Beklagten unter Änderung der genannten Bescheide verurteilt, den Klägern monatlich von Februar bis Juli 2011 weitere 91,98 Euro als Bedarfe für die Unterkunft zu gewähren, weil von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen sei, die unter den Werten nach dem WoGG plus 10 % lägen (Urteil vom 25.10.2013). Die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 13.9.2017). Es lasse sich nicht feststellen, dass der Beklagte für die Zeit ab Februar 2011 die angemessenen Aufwendungen der Unterkunft berücksichtigt habe. Die ab dem 1.7.2010 angewandte Handlungsanweisung des Beklagten zur Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung erfülle nicht die Mindestanforderungen an ein schlüssiges Konzept. Eine rückwirkende Anwendung des vom Beklagten in 2012 erarbeiteten Konzepts sei nicht möglich.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Das LSG habe zu Unrecht einen Vergleichsraum festgelegt, diesbezüglich stehe dem Leistungsträger eine nicht justiziable Einschätzungsprärogative zu. Zudem sei eine Rückschreibung der mit dem Stichtag 1.3.2012 erhobenen Mietobergrenzen für Juli 2011 mittels des Verbraucherpreisindexes möglich. Ggf als notwendig angesehene Nachermittlungen zur Vergleichsraumbildung und Erstellung eines schlüssigen Konzepts für 2012 seien möglich.

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 13. September 2017 und des Sozialgerichts Magdeburg vom 25. Oktober 2013 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Die Kläger verteidigen die angefochtene Entscheidung und beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

In einem Teilvergleich vor dem Senat haben sich die Beteiligten hinsichtlich der allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft für Februar bis Juni 2011 dem Ausgang des Rechtsstreits für Juli 2011 unterworfen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen, denn die Kläger haben Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Anerkennung ihrer tatsächlichen Aufwendungen.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist nach dem Teilvergleich vor dem Senat neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 25.6.2011, der die Leistungen für Juli 2011 endgültig bewilligte und insoweit die vorangegangenen Bescheide ersetzte (zur Anwendbarkeit des § 96 SGG auf nach Erlass des Widerspruchsbescheids, jedoch vor Klageerhebung ergangene Bescheide vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96 RdNr 3a), sowie die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II für Juli 2011 (zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere ist die Berufung zulässig, weil sie vom SG zugelassen worden ist. Die Kläger verfolgen ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), zulässigerweise gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

Ein solches Grundurteil im Höhenstreit ist auch hinsichtlich der zwischen den Beteiligten allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft zulässig. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils im Höhenstreit in Abgrenzung zu einer unzulässigen Elementfeststellungsklage ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl nur BSG vom 16.4.2013 - B 14 AS 81/12 R - SozR 4-4225 § 1 Nr 2 RdNr 10 mwN; zur Abgrenzung bei Verfahren nach § 44 SGB X: BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 32/16 R - BSGE 123, 199 = SozR 4-4200 § 11 Nr 80, RdNr 17 ff). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, weil der Beklagte den Klägern Alg II bewilligt hat und diese Anspruch auf höheres Alg II haben, wenn ihrem Vorbringen zur Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft gefolgt wird.

3. Rechtsgrundlage der Ansprüche der Kläger auf höhere Leistungen für die Unterkunft und Heizung für Juli 2011 gegen das beklagte Jobcenter sind §§ 19, 22 SGB II in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850). Denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das damals geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

4. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden im Rahmen der Bewilligung von Alg II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Die Prüfung der Angemessenheit des Bedarfs für die Unterkunft und der des Bedarfs für die Heizung haben grundsätzlich getrennt voneinander zu erfolgen (vgl nur BSG vom 2.7.2009 - B 14 AS 36/08 R - BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23, RdNr 18 mwN), unbeschadet der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Kostensenkungsaufforderungen (§ 22 Abs 1 Satz 4 SGB II) und der zwischenzeitlich eingeführten Gesamtangemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 10 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 26.7.2016 (BGBl I 1824).

Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen (BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 8/09 R - BSGE 104, 179 = SozR 4-4200 § 22 Nr 24 , RdNr 15 ff). Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen und der leistungsberechtigten Person den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang der Aufwendungen mitteilen (§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II; so schon BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 29; letztens BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 36/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 90).

5. Bei dem entscheidenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmal "Angemessenheit" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (stRspr: vgl BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 , RdNr 12; letztens BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 , RdNr 14).

Gegen die Verwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bestehen keine durchgreifenden Bedenken, zumal zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Angemessenheit des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auch die Regelungen der §§ 22a bis 22c SGB II zu berücksichtigen sind (BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15 - RdNr 17; BSG vom...

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