Urteil vom 20. Juni 2023 - 2 BvR 166/16
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rs20230620.2bvr016616 |
Judgement Number | 2 BvR 166/16 |
Date | 20 Junio 2023 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 20. Juni 2023 - 2 BvR 166/16 -, Rn. 1-248, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 20. Juni 2023
- 2 BvR 166/16 -
- 2 BvR 1683/17 -
Gefangenenvergütung II
- 1. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein umfassendes, wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln sowie die von ihm zu bestimmenden wesentlichen Regelungen des Strafvollzugs darauf aufzubauen
- 2. Das Gesamtkonzept muss zur Erreichung des von Verfassungs wegen vorgegebenen Resozialisierungsziels aus dem Gesetz selbst erkennbar sein. Der Gesetzgeber muss die Zwecke, die im Rahmen seines Resozialisierungskonzepts mit der (Gesamt-)Vergütung der Gefangenenarbeit und insbesondere dem monetären Vergütungsteil erreicht werden sollen, im Gesetz benennen und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen.
- 3. Der Gesetzgeber ist nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt; vielmehr ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Die gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs müssen auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen beruhen, und die Wirksamkeit der Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen muss regelmäßig wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden.
- 4. Hat der Gesetzgeber ein Resozialisierungskonzept festgeschrieben und entschieden, welchen Zwecken die Gefangenenarbeit und deren Vergütung dienen sollen, müssen Ausgestaltung und Höhe der Vergütung so bemessen sein, dass die in dem Konzept festgeschriebenen Zwecke auch tatsächlich erreicht werden können. Die Angemessenheit der Vergütungshöhe ist an den mit dem Resozialisierungskonzept verfolgten Zwecken zu messen.
- 5. Bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung, Abwägung und Gewichtung der verschiedenen Gesichtspunkte steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das Bundesverfassungsgericht nimmt die verfassungsrechtliche Überprüfung des Konzepts im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle vor.
Verkündet
am 20. Juni 2023
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 166/16 -
- 2 BvR 1683/17 -
Gefangenenvergütung II
über
die Verfassungsbeschwerden
I.des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte: 1. (…),
2. Rechtsanwalt (…) -
1. |
unmittelbar gegen |
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a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 28. Dezember 2015 - 2 Ws 782/15 -, |
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b) |
den Beschluss des Landgerichts Regensburg - auswärtige Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Straubing - vom 25. November 2015 - SR StVK 652/15 -, |
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2. |
mittelbar gegen |
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Artikel 46 Absatz 2 Satz 2 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe (Bayerisches Strafvollzugsgesetz – BayStVollzG) vom 10. Dezember 2007 (GVBl S. 866, BayRS 312-2-1-J), zuletzt durch § 1 Nummer 325 der Verordnung vom 22. Juli 2014 (GVBl S. 286) geändert |
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- 2 BvR 166/16 -, |
II.des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Ingo-Jens Tegebauer, LL.M.,
Beim Turm Luxemburg 25, 54296 Trier -
1. |
unmittelbar gegen |
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a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. Juni 2017 - III - 1 Vollz (Ws) 104/17 -, |
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b) |
den Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 24. Januar 2017 - IV-2 StVK 157/16 -, |
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2. |
mittelbar gegen |
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§ 32 Absatz 1 des Gesetzes zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen (Strafvollzugs- gesetz Nordrhein-Westfalen – StVollzG NRW) vom 13. Januar 2015 (GV. NRW. S. 75), zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 7. April 2017 (GV. NRW. S. 511) geändert |
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- 2 BvR 1683/17 - |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. und 28. April 2022 durch
für Recht erkannt:
- 1.Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
- 2.Artikel 46 Absatz 2, Absatz 3 und Absatz 6 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe vom 10. Dezember 2007 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 866) in der Fassung des § 10 des Gesetzes zur Ausführung des Betreuungsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Dezember 2022 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 718) sowie § 32 Absatz 1 und Absatz 4, § 34 Absatz 1 des Gesetzes zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen vom 13. Januar 2015 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 76) in der Fassung des Artikels 1 des Gesetzes zur Novellierung der nordrhein-westfälischen Landesjustizvollzugsgesetze vom 13. April 2022 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 543) sind mit dem Resozialisierungsgebot aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
- 3.Bis zur Neuregelung, die die jeweiligen Gesetzgeber bis spätestens zum 30. Juni 2025 zu treffen haben, sind die Vorschriften weiter anwendbar.
- 4. a) Die Beschlüsse der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 25. November 2015 - SR StVK 652/15 - und des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 28. Dezember 2015 - 2 Ws 782/15 - verletzen den Beschwerdeführer zu I. in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit sie auf der Anwendung der für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften beruhen
- b) Die Beschlüsse des Landgerichts Arnsberg vom 24. Januar 2017 - IV-2 StVK 157/16 - und des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. Juni 2017 - III - 1 Vollz (Ws) 104/17 - verletzen den Beschwerdeführer zu II. in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit sie auf der Anwendung der für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften beruhen.
- 5.Dem Beschwerdeführer zu I. sind seine notwendigen Auslagen durch den Freistaat Bayern, dem Beschwerdeführer zu II. durch das Land Nordrhein-Westfalen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gesetzlich festgelegte Höhe der Vergütung, die Gefangene im Strafvollzug für dort erbrachte Arbeitsleistungen erhalten. In Frage steht die Verfassungsmäßigkeit der Vergütungsregelungen im Freistaat Bayern (2 BvR 166/16) nach Art. 46 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe vom 10. Dezember 2007 (Bayerisches Strafvollzugsgesetz - BayStVollzG) und im Land Nordrhein-Westfalen (2 BvR 1683/17) nach den §§ 32 und 34 des Gesetzes zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen vom 13. Januar 2015 (Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen - StVollzG NRW).
A.
I.
1. Vor dem Urteil des Zweiten Senats vom 1. Juli 1998 zu der Vergütung von Gefangenenarbeit (BVerfGE 98, 169 ff.) legten § 43 Abs. 1 und Abs. 2 sowie § 200 Abs. 1 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz – StVollzG) vom 16. März 1976 (BGBl I S. 581, berichtigte Fassung S. 2088, und BGBl I 1977 S. 436) eine Bemessung des Arbeitsentgelts von 5 % der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) fest. Zusätzlich sah § 42 StVollzG eine Freistellung von achtzehn Werktagen für die Ausübung von einem Jahr zugewiesener Tätigkeit vor.
§ 200 Abs. 1 StVollzG a.F. nahm, indem er auf § 18 SGB IV verwies, auf das durchschnittliche Arbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ohne Auszubildende des vorvergangenen Kalenderjahres Bezug. Die Eckvergütung der Gefangenenarbeit in Höhe von 5 % dieser Bezugsgröße sollte nach den Reformvorstellungen des Gesetzgebers im Zeitraum von 1977 bis 1986 stufenweise auf 40 % angehoben werden. Schon der damalige Regierungsentwurf sah in der Gewährung des Arbeitsentgelts ein wesentliches Mittel der Resozialisierung. Das Arbeitsentgelt führe dem Gefangenen die Früchte seiner Arbeit vor Augen und diene zugleich seiner Eingliederung, indem es ihm ermögliche, zum Lebensunterhalt seiner Angehörigen beizutragen, einen Tatschaden wiedergutzumachen und Ersparnisse für den Übergang in das Leben nach der Entlassung zurückzulegen (BTDrucks 7/918, S. 67; vgl. BVerfGE 98, 169 <174 f.>).
Die Anhebung auf 40 % der Bezugsgröße wurde in der Folgezeit nicht umgesetzt. Die Bemessungsgrundlage des Arbeitsentgelts betrug weiterhin 5 % der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV. Diese lag für das Jahr 1997 bei 51.240 DM. Die Eckvergütung für Gefangenenarbeit betrug im Jahre 1997 monatlich 213,50 DM, da entgegen der gesetzlichen Festlegung in § 200 Abs. 2 StVollzG a.F. über eine Erhöhung der Vergütung nicht befunden worden war. Allerdings wurde von der in § 43 Abs. 2 StVollzG a.F. vorgesehenen Möglichkeit einer Differenzierung des Arbeitsentgelts Gebrauch...
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Beschluss vom 19. Dezember 2023 - 2 BvR 1936/22
...auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichtet ist (vgl. BVerfGE 98, 169 ; 116, 69 ; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 20. Juni 2023 - 2 BvR 166/16 u.a. -, Rn. 154), berühren (vgl. BVerfGK 6, 260 ; 8, 307 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. März 2021 - 2 BvR 134......
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Beschluss vom 19. Dezember 2023 - 2 BvR 1936/22
...auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichtet ist (vgl. BVerfGE 98, 169 ; 116, 69 ; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 20. Juni 2023 - 2 BvR 166/16 u.a. -, Rn. 154), berühren (vgl. BVerfGK 6, 260 ; 8, 307 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. März 2021 - 2 BvR 134......