BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1454/13 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B …, |
- Bevollmächtigte:
-
Rechtsanwälte Andreas Baier und Albrecht Grimm,
in Sozietät Anwaltskanzlei Stirnweiss, Stege & Coll.,
Kirchheimer Straße 94 - 96, 70619 Stuttgart -
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Ellwangen |
|
vom 28. Mai 2013 - 1 Qs 130/12 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Huber,
Müller,
Maidowski
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 6. Juli 2016 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen
I.
Die Verfassungsbeschwerde hat die Zulässigkeit einer Überwachung der Internetnutzung in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf der Grundlage des § 100a StPO zum Gegenstand.
1. Am 12. Mai 2010 wurde B., die Mutter der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, entführt und eine Lösegeldforderung an ihren Ehemann gerichtet. Ungeachtet einer versuchten Geldübergabe wurde B. getötet; der Leichnam wurde am 3. Juni 2010 in einem Waldstück aufgefunden. Der Sohn des Opfers und der Beschwerdeführer gerieten in der Folgezeit im Zuge der Ermittlungen zeitweise in den Verdacht, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Der von den Ermittlungsbehörden angenommene Tatverdacht gründete - wie sich später herausstellte - auf fehlerhaften Ermittlungsergebnissen; dies war darauf zurückzuführen, dass Telefongespräche auf Grund eines temporären Stromausfalls in einer Telefonanlage zeitlich falsch eingeordnet worden waren. Das gegen den Beschwerdeführer und den Sohn der Getöteten gerichtete Ermittlungsverfahren wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 7. November 2011 mangels weiteren Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Aufgrund des Verdachts der Beteiligung an einem Mord ordnete der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Ellwangen mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 - neben anderen heimlichen Überwachungsmaßnahmen - auch die Überwachung und Aufzeichnung des Telekommunikationsverkehrs des Beschwerdeführers an. Davon waren zahlreiche auf den Namen des Beschwerdeführers laufende Telefonnummern und unter anderem auch der streitgegenständliche DSL-Anschluss des Beschwerdeführers betroffen. Mit Beschluss vom 9. November 2010 wurde der Beschluss vom 15. Oktober 2010 einerseits dahin erweitert, dass zur Überwachung der über die Anschlüsse geführten verschlüsselten Telekommunikation die Vornahme hierzu erforderlicher Maßnahmen im Rahmen der Fernsteuerung angeordnet wurde. Andererseits wurden nur solche Maßnahmen für zulässig erklärt, die der Überwachung der Telekommunikation dienten und für die Umsetzung zwingend erforderlich waren. Insbesondere wurde die Durchsuchung fremder Computer nach bestimmten gespeicherten Dateien sowie das Übertragen und Kopieren entsprechender Daten außerhalb eines Telekommunikationsvorgangs explizit für unzulässig erklärt.
Mit Beschlüssen des Amtsgerichts Ellwangen vom 14. Januar 2011 und vom 14. April 2011 wurde die Anordnung für die Telekommunikationsüberwachung jeweils um drei Monate verlängert und teils auf E-Mail-Konten erweitert. Die Ermittlungen aufgrund der angeordneten Überwachungsmaßnahmen dauerten längstens bis zum 17. Juni 2011. Auf Anforderung des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers ließ die Staatsanwaltschaft Ellwangen diesem mit Schreiben vom 1. Juli 2011 eine Aufstellung über Umfang und Dauer der verdeckten Maßnahmen gemäß § 101 StPO zukommen.
2. Der Beschwerdeführer stellte durch seinen Prozessbevollmächtigten am 7. Juli 2011 Antrag auf gerichtliche Überprüfung der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen. Im Zuge von Akteneinsicht und weiteren Auskünften durch die Staatsanwaltschaft erhielt er Kenntnis davon, dass über seinen streitgegenständlichen DSL-Anschluss insgesamt 129.000 Aufrufe von HTML-Seiten im Überwachungszeitraum registriert wurden. Auf Anfrage des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers erläuterte die Staatsanwaltschaft, dass durch Vorlage eines Beschlusses nach § 100a StPO der Provider verpflichtet sei, eine Kopie der von ihm übermittelten Impulse, zu denen auch HTML-Seiten gehörten, an die Polizei auszuleiten. Die Internetüberwachung erschöpfe sich in der Erfassung der vom Provider ausgeleiteten HTML-Seiten, die von den überwachten Anschlüssen aus aufgerufen worden seien. Die weiteren von der Staatsanwaltschaft dem Prozessbevollmächtigten übermittelten Unterlagen enthielten eine chronologisch geordnete Auflistung sämtlicher während des Überwachungszeitraums über den DSL-Anschluss angewählter Internetseiten.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 29. Juni 2012 begründete der Beschwerdeführer seinen Antrag auf Überprüfung der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen. Er beanstandete, dass die Internetüberwachung den Kernbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung verletze. Die überwachte Internetaktivität sei außerdem schon keine „Kommunikation“ im Sinne des § 100a StPO.
Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg gab mit Schreiben vom 27. Juni 2012 eine Stellungnahme zur durchgeführten Internetüberwachung ab. Darin wurde unter anderem dargestellt, dass sämtliche ausgeleiteten Rohdaten über eine verschlüsselte Verbindung zur TKÜ-Anlage übermittelt und dort nach den Vorgaben der Technischen Richtlinien als Rohdaten entgegengenommen und gespeichert würden. Zur Auswertung würden die Rohdaten vom TKÜ-System automatisiert dekodiert und dem Auswerter zur Verfügung gestellt. Die Staatsanwaltschaft gab ebenfalls eine Stellungnahme ab. Aus ihrer Sicht sei das Abrufen von Internetseiten als Telekommunikation im Sinne des § 100a StPO zu bewerten und eine Verletzung des Kernbereichs des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht ersichtlich.
3. Mit Beschluss vom 7. November 2012 stellte das Amtsgericht fest, dass die Art und Weise des Vollzugs der angegriffenen Beschlüsse rechtmäßig gewesen sei, soweit die Ausleitung, Aufzeichnung und Auswertung von HTML-Seiten beanstandet werde. Die vom Beschwerdeführer monierte „Internetüberwachung“ durch Speicherung sämtlicher angewählter Internetseiten sowie auch eingegebener Suchbegriffe sei von der Anordnung gemäß § 100a StPO umfasst gewesen.
4. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 19. November 2012 legte der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Amtsgerichts sofortige Beschwerde ein, welche mit Schriftsätzen vom 21. Dezember 2012 und 20. März 2013 begründet wurde.
Das Erfassen, Speichern und Auswerten der Internetaktivitäten sei nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 100a StPO gedeckt und damit rechtswidrig. Die Auslegung des Begriffs „Telekommunikation“ müsse sich an dem Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 Abs. 1 GG orientieren. Nicht mit allen Diensten des Internets finde ein Kommunikationsvorgang statt. Entscheidend für eine Kommunikation sei, dass ein Austausch von Informationen zwischen Menschen stattfinde, das heißt die Information für einen Empfänger bestimmt sei. Bei der Benutzung des World Wide Web verbinde sich der Computer über die Telefonleitung aber nur mit dem Netzwerksystem und rufe die auf dem Server zum Abruf bereit gestellten Informationen auf. Hierbei erfolge lediglich ein Datenaustausch mit dem Netzwerk und gerade keine Kommunikation.
5. Das Landgericht Ellwangen hat die sofortige Beschwerde mit angegriffenem Beschluss vom 28. Mai 2013 in diesem Punkt als unbegründet verworfen.
Durch die Überwachung der Aktivitäten des Beschwerdeführers über das Internet, insbesondere des Besuchs von Web-Seiten, die über „Google“ gesucht wurden, werde in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten eingegriffen, welches auch das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme umfasse.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers liege aber auch in der Nutzung des Internets durch Abruf von Seiten im World Wide Web mittels eines Browsers eine Internetkommunikation und damit auch eine Telekommunikation im Sinne strafprozessualer Vorschriften. Dies werde vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zu Vorschriften des Verfassungsschutzgesetzes für Nordrhein-Westfalen (unter Hinweis auf BVerfGE 120, 274 ff.) ohne Weiteres vorausgesetzt. Dies sei auch Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die Überwachung der Internetnutzung nach § 100a StPO beurteile und dem Schutz des Art. 10 GG unterstelle (unter Hinweis auf BGH NStZ-RR 2011, S. 148 f.).
Die Kammer könne sich der abweichenden Ansicht, es fehle an (Tele-)Kom-munikationsinhalten, nicht anschließen. Bereits aus der Ersetzung der früheren gesetzlichen und heute noch in Art. 10 GG verwendeten Formulierung „Fernmelde…“, durch den neueren Begriff „Telekommunikation“ werde deutlich, dass gerade auch die immer neuen Formen des Umgangs mit elektronischen Medien unter besonderen gesetzlichen Schutz im Rahmen der informationellen Selbstbestimmung gestellt werden sollten. Demgemäß wäre es im Sinne einer grundrechtskonformen Auslegung fatal, wenn man die Betätigung durch „Surfen“ etwa nur an der allgemeinen Vorschrift des § 161 StPO messen wollte. Vielmehr würden diese Betätigungsweisen gerade auch dann dem Schutz der entsprechenden Vorschriften unterfallen, wenn bei rein förmlichem semantischem Verständnis der herkömmliche Wortsinn nicht mit der gesetzlichen Formulierung überein zu stimmen scheine. Somit...