Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rs20211119.1bvr097121 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 -, Rn. 1-222, |
Judgement Number | 1 BvR 971/21 |
Date | 19 Noviembre 2021 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021
Bundesnotbremse II
(Schulschließungen)
- 1 BvR 971/21 -
- 1 BvR 1069/21 -
- Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung)
- Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen
- Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen
- Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt zudem ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems.
- Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das in Ausgestaltung des Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches zu verändern.
- Entfällt der schulische Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung für einen längeren Zeitraum, sind die Länder nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet.
- Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie muss der Gesetzgeber seinen Entscheidungen umso fundiertere Einschätzungen zugrunde legen, je länger die zur Bekämpfung der Gefahr ergriffenen belastenden Maßnahmen anhalten. Allerdings dürfte der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug dazu beigetragen hat, dass freiheitsschonendere Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren erforscht wurden.
- Eine die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates gemäß Art. 104a Abs. 4 GG auslösende bundesgesetzliche Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten liegt nur dann vor, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezweckt, Dritten individuelle Vorteile durch staatliche Leistungen zu verschaffen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 971/21 -
- 1 BvR 1069/21 -
über
die Verfassungsbeschwerden
I. |
1. des Herrn (…), |
|
2. |
der Frau (…), |
|
3. |
der Minderjährigen (…), gesetzlich vertreten durch die Eltern (…), |
|
4. |
der Minderjährigen (…), gesetzlich vertreten durch die Eltern (…), |
|
5. |
der Minderjährigen (…), gesetzlich vertreten durch die Eltern (…), |
|
6. |
der Minderjährigen (…), gesetzlich vertreten durch die Eltern (…), |
- Bevollmächtigter:
-
(…) -
gegen |
§ 28b Absatz 3 Satz 1 Halbsatz 2, Satz 2, Satz 3, Satz 10, § 33 Nummer 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 802), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. Mai 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 1174) |
- 1 BvR 971/21 -,
II. |
1. der Frau (…), |
|
2. |
des Minderjährigen (…), gesetzlich vertreten durch die Mutter (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
gegen |
§ 28b Absatz 3 Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 802), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. Mai 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 1174) |
- 1 BvR 1069/21 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel
am 19. November 2021 beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Inhaltsverzeichnis | |
Rn. | |
A. Sachbericht | 1 |
I. Rechtslage | 2 |
1. Angegriffene Rechtsvorschriften | 2 |
2. Vorangegangene Schulschließungen durch die Länder | 6 |
3. Distanzunterricht und Notbetreuung | 8 |
II. Verfassungsbeschwerden | 9 |
1. Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer | 9 |
2. Beschwerdevorbringen | 11 |
III. Stellungnahmen | 14 |
1. Äußerungsberechtigte | 14 |
a) Bundesregierung | 15 |
b) Deutscher Bundestag | 20 |
c) Bayerische Staatsregierung | 21 |
2. Sachkundige Dritte | 22 |
B. Zulässigkeit | 24 |
I. Beschwerdebefugnis | 25 |
1. Tests | 27 |
2. Schließung von Kindertagesstätten | 28 |
3. Verbot von Präsenzunterricht | 30 |
a) Betroffenheit | 31 |
b) Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung | 33 |
aa) Art. 3 Abs. 1 GG (Ungleichbehandlung von Schule und Arbeit) | 34 |
bb) Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG | 37 |
cc) Art. 12 Abs. 1 GG | 38 |
dd) Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG | 39 |
II. Weitere Anforderungen | 40 |
C. Begründetheit | 41 |
I. Vereinbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht mit dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG | 42 |
1. Eingriff in das Recht auf schulische Bildung | 43 |
a) Herleitung des Rechts auf schulische Bildung | 45 |
aa) Recht der Kinder und Jugendlichen aus Art. 2 Abs. 1 GG auf staatliche Unterstützung bei ihrer Persönlichkeits-entwicklung | 45 |
bb) Recht auf schulische Bildung als subjektiv-rechtliches „Gegenstück“ des Bildungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG | 47 |
b) Schutzbereich des Rechts auf schulische Bildung | 49 |
c) Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf schulische Bildung | 51 |
aa) Kein originäres Leistungsrecht | 52 |
bb) Recht auf unverzichtbaren Mindeststandard | 57 |
cc) Derivatives Teilhaberecht | 58 |
dd) Abwehrrecht | 61 |
d) Recht der Schüler an Privatschulen auf schulische Bildung | 65 |
e) Völkerrecht und Recht der Europäischen Union | 66 |
f) Eingriffsqualität des Verbots von Präsenzunterricht | 72 |
aa) Regelungsadressaten | 73 |
bb) Eingriff | 74 |
2. Formelle Verfassungsmäßigkeit | 77 |
a) Gesetzgebungskompetenz für § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG | 78 |
aa) Maßstab | 79 |
bb) Subsumtion | 83 |
b) Zustimmungsbedürftigkeit | 88 |
aa) Art. 104a Abs. 4 GG | 89 |
(1) Ländereigene Ausführung | 92 |
(2) Pflicht zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen | 94 |
(a) Geldleistung | 95 |
(b) Geldwerte Sachleistungen oder vergleichbare Dienstleistungen | 97 |
(aa) Tests | 98 |
(bb) Notbetreuung | 105 |
bb) Art. 80 Abs. 2 GG | 106 |
3. Materielle Verfassungsmäßigkeit | 107 |
a) Legitimer Zweck | 110 |
b) Eignung | 113 |
aa) Maßstab | 114 |
bb) Subsumtion | 116 |
(1) Ansteckungsrisiko von Kindern | 117 |
(2) Übertragungsrisiko | 118 |
(3) Eignung der Anknüpfung an die Inzidenz | 120 |
c) Erforderlichkeit | 121 |
aa) Maßstab | 122 |
bb) Alternative: Tests | 124 |
(1) Geringere Belastung | 125 |
(2) Gleiche Wirksamkeit | 126 |
cc) Alternative: Beschränkungen sonstiger Lebensbereiche, Verbesserung der Kontaktnachverfolgung | 131 |
d) Angemessenheit | 133 |
aa) Maßstab | 134 |
bb) Intensität des Grundrechtseingriffs | 136 |
(1) Kumulative Effekte | 137 |
(2) Eingriffsintensität | 138 |
(a) Umfang der pandemiebedingten Schulschließungen | 139 |
(b) Umfang des Distanzunterrichts | 141 |
(c) Bildungsverluste | 142 |
(d) Auswirkungen auf die Sozialkompetenz | 144 |
(e) Besondere Belastungen | 145 |
(f) Ausgleichsmaßnahmen | 149 |
(g) Verschlechterung der Gesamtlebenssituation | 150 |
cc) Gemeinwohlbedeutung des Verbots von Präsenzunterricht | 153 |
(1) Notwendiger Bestandteil des Gesamtschutzkonzepts | 154 |
(2) Gewichtung | 157 |
dd) Angemessener Interessenausgleich | 159 |
(1) Bundesgesetzlicher Interessenausgleich | 160 |
(a) Hoher Inzidenzwert und räumliche Begrenzung | 161 |
(b) Notbetreuung | 162 |
(c) Öffnung von Abschlussklassen und Förderschulen | 163 |
(2) Distanzunterricht | 164 |
(a) Minderung der Eingriffsintensität | 165 |
(b) Gewährleistung von Distanzunterricht | 166 |
(aa) Pflicht der Länder zur Durchführung von Distanzunterricht | 167 |
(bb) Recht auf Distanzunterricht | 173 |
(3) Staatliche Mitwirkung an Erkenntnisgewinnung | 175 |
(4) Staatliche Vorkehrungen | 183 |
(5) Vorläufigkeit der gesetzgeberischen Abwägung | 192 |
(a) Mögliche Entwicklungen | 193 |
(aa) Entwicklung des Infektionsgeschehens | 194 |
(bb) Allgemeines Impfangebot | 195 |
(cc) Steigende Eingriffsgesamtintensität | 196 |
(b) Sicherung der künftigen Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme durch Befristung | 197 |
II. |
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN-
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