Urteil Nr. VIII ZR 180/18 des VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, 22-05-2019

ECLIECLI:DE:BGH:2019:220519UVIIIZR180.18.0
Docket NumberVIII ZR 180/18
Date22 Mayo 2019
CourtVIII. Zivilsenat
ECLI:DE:BGH:2019:220519UVIIIZR180.18.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VIII ZR 180/18 Verkündet am:
22. Mai 2019
Reiter,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
BGB § 574 Abs. 1 Satz 1
a) Eine Fortsetzung des Mietverhältnisses setzt nicht voraus, dass die auf Seiten des
Mieters bestehende Härte die Interessen des Vermieters deutlich überwiegt. Maß-
gebend ist allein, ob sich ein Übergewicht der Belange der Mieterseite feststellen
lässt, also die Interessenabwägung zu einem klaren Ergebnis führt.
b) Da sich ein hohes Alter eines Mieters und/oder eine lange Mietdauer mit einer
damit einhergehenden langjährigen Verwurzelung im bisherigen Umfeld je nach
Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung des Mieters unter-
schiedlich stark auswirken können, rechtfertigen diese Umstände ohne weitere
Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen im Falle eines erzwunge-
nen Wohnungswechsels grundsätzlich noch keine Härte im Sinne des § 574
Abs. 1 Satz 1 BGB.
Kommen zu diesen Umständen Erkrankungen hinzu (hier Demenz gemischter
Genese), aufgrund derer beim Mieter im Falle seines Herauslösens aus seiner
näheren Umgebung eine - nach ihrem Grad nicht näher festgestellte - Verschlech-
terung seines gesundheitlichen Zustands zu erwarten steht, kann dies in der Ge-
samtschau zu einer Härte führen. Wenn der gesundheitliche Zustand des Mieters
einen Umzug nicht zulässt oder im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die
ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situa-
tion des (schwer) erkrankten Mieters besteht, kann sogar allein dies einen Här-
tegrund darstellen (Bestätigung von Senatsurteil vom 16. Oktober 2013 - VIII ZR
57/13, NJW-RR 2014, 78 Rn. 20).
- 2 -
c) Werden von dem Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels sub-
stantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht,
haben sich die Tatsacheninstanzen beim Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig
mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haf-
tendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen
mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwar-
tende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit
welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (Bestätigung von Senatsurteil vom
15. März 2017 - VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474 Rn. 24, 29).
d) Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Partei-
en im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung
ist den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden
Grundrechten zum Ausdruck kommen. Dabei haben die Gerichte zu berücksichti-
gen, dass bezüglich der Anwendung und Auslegung des Kündigungstatbestands
des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB einerseits und der Sozialklausel des § 574 BGB ande-
rerseits dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten (im Anschluss an
BVerfG, NJW-RR 1999, 1097; NJW-RR 1993, 1358), so dass auch im Rahmen
der Vorschrift des § 574 BGB die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung
grundsätzlich zu respektieren und der Rechtsfindung zugrunde zu legen ist (im
Anschluss an BVerfGE 68, 361, 373 f.; 79, 292, 304 f.; BVerfG, NJW 1994, 309,
310; 1995, 1480, 1481).
Diesen Vorgaben werden die Gerichte nicht gerecht, wenn sie (wie das Beru-
fungsgericht) dem Vermieter, der die Mietwohnung zum Zwecke der Selbstnut-
zung erworben hat, bei der Gewichtung und Abwägung der gegenläufigen Belan-
ge eine geringere Bedeutung zumessen als bei der Beurteilung, ob dieses Vorge-
hen einen Eigenbedarf im Sinne des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB begründet, und ei-
nem solchen Nutzungswunsch einen geringeren Stellenwert als einem Eigenbe-
darf des ursprünglichen Vermieters zuweisen.
e) Im Rahmen der Interessenabwägung haben die Gerichte nicht nur die Lebenspla-
nung des Vermieters zu respektieren, sondern dürfen auch bezüglich der Interes-
sen des Mieters ihre Vorstellungen über den einzuschlagenden Weg nicht an des-
sen Stelle setzen (im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 1994
- 1 BvR 2067/93, juris Rn. 4 f.). Dies gilt insbesondere dann, wenn es um das
Schicksal älterer Personen geht.
f) Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat sich stets an den konkreten Um-
ständen des zu beurteilenden Einzelfalls auszurichten. Dabei kommt weder den
Belangen des Vermieters noch den Interessen des Mieters von vornherein ein
größeres Gewicht zu als denen der Gegenseite. Aus diesen Gründen ist es (an-
ders als das Berufungsgericht annimmt) nicht zulässig, Kategorien zu bilden, in
denen generell die Interessen einer Seite überwiegen (hier: Selbstnutzungs-
wunsch des Erwerbers einer vermieteten Wohnung einerseits; nach langer Miet-
dauer eintretender Eigenbedarf des ursprünglichen Vermieters andererseits).
- 3 -
BGB § 574 Abs. 2
Der Härtegrund des zu zumutbaren Bedingungen nicht zu beschaffenden Ersatz-
wohnraums ist nicht bereits dann gegeben, wenn im Gemeindegebiet gerichtsbe-
kannt eine angespannte Wohnlage herrscht, die auch zum Erlass von diesem Um-
stand Rechnung tragenden Verordnungen geführt hat. Eine festgestellte und/oder in
Verordnungen zugrunde gelegte angespannte Wohnlage kann allenfalls ein gewis-
ses Indiz für das Vorliegen eines Härtegrunds nach § 574 Abs. 2 BGB darstellen, das
in Verbindung mit substantiiertem (unstreitigem oder nachgewiesenem) Parteivortrag
zu konkret ergriffenen Maßnahmen zu der tatrichterlichen Überzeugung führen kann,
dass angemessener Wohnraum zu zumutbaren Bedingungen für den Mieter (und
seine Familien- oder Haushaltsangehörigen) nicht zu erlangen ist.
BGB § 574a Abs. 2
Wenn auf Seiten des Vermieters dringender Wohnbedarf besteht, haben die Gerichte
im Falle eines Überwiegens der Mieterinteressen im Rahmen der von ihnen zu tref-
fenden Ermessensentscheidung sorgfältig zu prüfen, ob eine Fortsetzung des Miet-
verhältnisses auf unbestimmte Zeit angeordnet werden soll.
ZPO § 144
a) Macht ein Mieter unter Vorlage eines ärztlichen Attests geltend, ihm sei ein Umzug
wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, ist im Falle des Bestreitens
dieses Vortrags regelmäßig die - beim Fehlen eines entsprechenden Beweisan-
tritts von Amts wegen vorzunehmende - Einholung eines Sachverständigengut-
achtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschrie-
benen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen
und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich (Bestätigung und
Fortentwicklung von Senatsurteil vom 15. März 2017 - VIII ZR 270/15, aaO
Rn. 29).
b) Vom Mieter ist als medizinischen Laien über die Vorlage eines solchen (ausführli-
chen) fachärztlichen Attests hinaus nicht zu verlangen, noch weitere - meist nur
durch einen Gutachter zu liefernde - Angaben zu den gesundheitlichen Folgen,
insbesondere zu deren Schwere und zu der Ernsthaftigkeit zu befürchtender ge-
sundheitlicher Nachteile zu tätigen (im Anschluss an BVerfG, NJW-RR 1993, 463).
BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - VIII ZR 180/18 - LG Berlin
AG Berlin-Charlottenburg

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