Urteil vom 03. Juli 2008 - 2 BvC 1/07
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2008:cs20080703.2bvc000107 |
Date | 03 Julio 2008 |
Judgement Number | 2 BvC 1/07 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 03. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 - Rn. (1-145), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Le i t s a t z
zum Urteil des Zweiten Senats vom 3. Juli 2008
- 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07 -
§ 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes verletzt die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvC 1/07 - |
Verkündet am 3. Juli 2008 Herr Regierungsangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle |
über
die Wahlprüfungsbeschwerden
1. | des Herrn Dr. F… |
Unter den Linden 6, 10099 Berlin -
gegen | den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 14. Dezember 2006 - WP 162/05 - (BTDrucks 16/3600) - |
- 2 BvC 1/07 -,
2. | des Herrn Z… |
Unter den Linden 6, 10099 Berlin -
gegen | den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 14. Dezember 2006 - WP 179/05 - (BTDrucks 16/3600) - |
- 2 BvC 7/07 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Hassemer,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. April 2008 durch
für Recht erkannt:
- § 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 674) verletzt Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.
- Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.
- Im Übrigen werden die Wahlprüfungsbeschwerden zurückgewiesen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat die notwendigen Auslagen dieses Verfahrens dem Beschwerdeführer zu 1. vollumfänglich und dem Beschwerdeführer zu 2. zur Hälfte zu erstatten.
Die Wahlprüfungsbeschwerden betreffen die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Effekts des so genannten negativen Stimmgewichts oder inversen Erfolgswerts. Hierunter wird eine Paradoxie im Verfahren der Mandatszuteilung verstanden, die darin besteht, dass ein Zugewinn von Zweitstimmen einer Partei zu einem Mandatsverlust bei genau dieser Partei und umgekehrt die Verringerung der Anzahl der Zweitstimmen zu einem Mandatsgewinn führen kann.
I.
Der von den Beschwerdeführern angegriffene Effekt des negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten bei der Verteilung von Mandaten auf verschiedene verbundene Landeslisten auf und beruht auf einem Zusammenspiel der Normen des § 7 Abs. 3 Satz 2 und § 6 Abs. 4 und Abs. 5 Bundeswahlgesetz (BWG).
1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BWG werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, deren regelmäßige Zahl nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BWG 598 beträgt, nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt. Diese Verbindung von Personen- und Verhältniswahl wird im Bundeswahlgesetz dadurch verwirklicht, dass jeder Wähler nach § 4 BWG zwei Stimmen erhält. Das Element der Personenwahl findet darin seinen Ausdruck, dass 299 Abgeordnete, also die Hälfte, gemäß den § 1 Abs. 2, § 4 BWG mit der ersten Stimme auf der Grundlage von Kreiswahlvorschlägen in Wahlkreisen nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl gewählt werden. Mit der zweiten Stimme werden die übrigen 299 Abgeordneten aufgrund von Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) der politischen Parteien nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (§ 1 Abs. 2, § 4 Halbsatz 2, § 27 Abs. 1 Satz 1 BWG).
Das Verhältnis von Erst- und Zweitstimme ist in § 5 bis § 7 BWG geregelt, nach denen die Sitze im Deutschen Bundestag zugeteilt werden. Für die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag galten diese Regelungen in der Fassung der Bekanntmachung des Bundeswahlgesetzes vom 23. Juli 1993 (BGBl I S. 1288, ber. S. 1594), zuletzt geändert durch das Siebzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 (BGBl I S. 674).
Diese Bestimmungen hatten folgenden Wortlaut:
§ 5
Wahl in den Wahlkreisen
In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt. Gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das vom Kreiswahlleiter zu ziehende Los.
§ 6
Wahl nach Landeslisten
(1) Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt. Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Abs. 3 oder von einer Partei, für die in dem betreffenden Lande keine Landesliste zugelassen ist, vorgeschlagen ist. Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Abs. 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die in Satz 2 genannt oder von einer nach Absatz 6 nicht zu berücksichtigenden Partei vorgeschlagen sind.
(2) Die nach Absatz 1 Satz 3 verbleibenden Sitze werden auf die Landeslisten auf der Grundlage der nach Absatz 1 Sätze 1 und 2 zu berücksichtigenden Zweitstimmen wie folgt verteilt. Die Gesamtzahl der verbleibenden Sitze, vervielfacht mit der Zahl der Zweitstimmen, die eine Landesliste im Wahlgebiet erhalten hat, wird durch die Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Landeslisten geteilt. Jede Landesliste erhält zunächst so viele Sitze, wie ganze Zahlen auf sie entfallen. Danach zu vergebende Sitze sind den Landeslisten in der Reihenfolge der höchsten Zahlenbruchteile, die sich bei der Berechnung nach Satz 2 ergeben, zuzuteilen. Bei gleichen Zahlenbruchteilen entscheidet das vom Bundeswahlleiter zu ziehende Los.
(3) Erhält bei der Verteilung der Sitze nach Absatz 2 eine Landesliste, auf die mehr als die Hälfte der Gesamtzahl der Zweitstimmen aller zu berücksichtigenden Landeslisten entfallen ist, nicht mehr als die Hälfte der zu vergebenden Sitze, wird ihr von den nach Zahlenbruchteilen zu vergebenden Sitzen abweichend von Absatz 2 Sätze 4 und 5 zunächst ein weiterer Sitz zugeteilt. Danach zu vergebende Sitze werden nach Absatz 2 Sätze 4 und 5 zugeteilt.
(4) Von der für jede Landesliste so ermittelten Abgeordnetenzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze abgerechnet. Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt sind, bleiben auf der Landesliste unberücksichtigt. Entfallen auf eine Landesliste mehr Sitze als Bewerber benannt sind, so bleiben diese Sitze unbesetzt.
(5) In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach den Absätzen 2 und 3 ermittelte Zahl übersteigen. In einem solchen Falle erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Abs. 1) um die Unterschiedszahl; eine erneute Berechnung nach den Absätzen 2 und 3 findet nicht statt.
(6) Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung.
§ 7
Listenverbindung
(1) Landeslisten derselben Partei gelten als verbunden, soweit nicht erklärt wird, dass eine oder mehrere beteiligte Landeslisten von der Verbindung ausgeschlossen sein sollen.
(2) Verbundene Listen gelten bei der Sitzverteilung im Verhältnis zu den übrigen Listen als eine Liste.
(3) Die auf eine Listenverbindung entfallenden Sitze werden auf die beteiligten Landeslisten entsprechend § 6 Abs. 2 verteilt. § 6 Abs. 4 und 5 gilt entsprechend.
2. Das Bundeswahlgesetz ist durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom 17. März 2008 (BGBl I S. 394) geändert worden. Die Verteilung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien gemäß den für die Listen abgegebenen gültigen Zweitstimmen soll zukünftig nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung Sainte-Laguë/Schepers berechnet werden. Die Änderung wurde damit begründet, dass die vorher anzuwendende Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten Hare/Niemeyer sowohl bei der bundesweiten Verteilung der Sitze auf die verbundenen Landeslisten (§ 6 Abs. 2 und 3 BWG) als auch bei der Verteilung auf die jeweils beteiligten Landeslisten (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BWG in Verbindung mit § 6 Abs. 2 BWG) zu paradoxen Ergebnissen führten, die mit dem neuen Verfahren vermieden würden (vgl. BTDrucks 16/7461, S. 9).
Dem entsprechend wurden die Sätze 2 bis 5 in § 6 Abs. 2 BWG wie folgt neu gefasst:
„Jede Landesliste erhält so viele Sitze, wie sich nach Teilung der Summe ihrer im Wahlgebiet erhaltenen Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor ergeben. Zahlenbruchteile unter 0,5 werden auf die darunter liegende ganze Zahl abgerundet, solche über 0,5 werden auf die darüber liegende ganze Zahl aufgerundet. Zahlenbruchteile, die gleich 0,5 sind, werden so aufgerundet oder abgerundet, dass die Gesamtzahl...
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