Urteil vom 07. November 2017 - 2 BvE 2/11
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2017:es20171107.2bve000211 |
Judgement Number | 2 BvE 2/11 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 07. November 2017 - 2 BvE 2/11 - Rn. (1-372), |
Date | 07 Noviembre 2017 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Zweiten Senats vom 7. November 2017
- 2 BvE 2/11 -
- Der parlamentarische Informationsanspruch aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ist auf Beantwortung gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt. Bei Vorliegen berechtigter Geheimhaltungsinteressen kann die Beantwortung parlamentarischer Anfragen unter Anwendung der Geheimschutzordnung geeignet sein, einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Fragerecht der Abgeordneten und konfligierenden Rechtsgütern zu schaffen
- Das verfassungsrechtlich garantierte parlamentarische Frage- und Informationsrecht unterliegt Grenzen, die, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben müssen. Vertraglich vereinbarte oder einfachgesetzliche Verschwiegenheitsregelungen sind für sich nicht geeignet, das Frage- und Informationsrecht zu beschränken
- Der Informationsanspruch des Parlaments kann sich als Ausdruck der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament nur auf Angelegenheiten beziehen, die in den Verantwortungsbereich der Regierung fallen. Die Verantwortlichkeit der Regierung im Kontext demokratischer Legitimation erstreckt sich auf alle Tätigkeiten von mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Bundes befindlichen Unternehmen in Privatrechtsform. Dabei ist die Verantwortlichkeit der Regierung nicht auf die ihr gesetzlich eingeräumten Einwirkungs- und Kontrollrechte beschränkt
- Der Verantwortungsbereich der Bundesregierung für die Deutsche Bahn AG bezieht sich auf die Ausübung der Beteiligungsverwaltung sowie auf die Regulierungstätigkeit der Bundesbehörden und die sachgerechte Erfüllung des Gewährleistungsauftrages aus Art. 87e Abs. 4 GG. Darüber hinaus liegt auch die unternehmerische Tätigkeit der Deutschen Bahn AG im Verantwortungsbereich der Bundesregierung. Der Verantwortungszusammenhang wird nicht durch Art. 87e GG aufgehoben
- Die Bundesregierung ist nicht berechtigt, die Antwort auf parlamentarische Anfragen im Einzelfall unter Verweis auf die Betroffenheit der Grundrechte der Deutschen Bahn AG zu verweigern. Als vom Staat vollständig beherrschte juristische Person dient sie nicht der Ausübung individueller Freiheit Einzelner und kann sich nicht auf Grundrechte berufen. Auch räumt Art. 87e GG der Deutschen Bahn AG keinen abwehrrechtlichen Status gegenüber (gemeinwohlorientierten) Einwirkungen des Staates auf ihre Unternehmensführung ein
- Eine Grenze des Informationsanspruchs des Bundestages bildet das Wohl des Bundes oder eines Landes (Staatswohl), das durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen gefährdet werden kann.
- Das fiskalische Interesse des Staates am Schutz vertraulicher Informationen seiner (Beteiligungs-)Unternehmen stellt einen verfassungsrechtlichen Staatswohlbelang dar.
- Die Funktionsfähigkeit staatlicher Aufsicht über Banken und andere Finanzinstitute, die Stabilität des Finanzmarktes und der Erfolg staatlicher Stützungsmaßnahmen in der Finanzkrise sind ebenfalls Belange des Staatswohls, die die Antwortpflicht der Bundesregierung auf parlamentarische Fragen beschränken können.
- Das verfassungsmäßige Frage- und Informationsrecht des Bundestages und die damit verbundene Auskunftspflicht der Bundesregierung stellen eine hinreichende Grundlage für einen in der Auskunftserteilung liegenden Grundrechtseingriff dar. Einer weitergehenden gesetzlichen Regelung bedarf es insoweit nicht.
- Das parlamentarische Informationsrecht steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit. Es sind alle Informationen mitzuteilen, über die die Bundesregierung verfügt oder die sie mit zumutbarem Aufwand in Erfahrung bringen kann. Sie muss alle ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten der Informationsbeschaffung ausschöpfen.
- Aus der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, folgt, dass sie die Gründe darlegen muss, aus denen sie die erbetenen Auskünfte verweigert. Einer besonderen Begründungspflicht unterliegt die Bundesregierung, soweit sie ihre Antwort nicht in einer zur Veröffentlichung in einer Bundestagsdrucksache bestimmten Weise erteilt, sondern dem Deutschen Bundestag eingestuft in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages zur Verfügung stellt.
Verkündet
am 7. November 2017
Fischböck
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 2/11 -
über
die Anträge
1. |
Die Antragsgegnerin hat den Deutschen Bundestag und die Antragsteller zu 1. und zu 5. in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass sie die mit den schriftlichen Fragen Nr. 316 und 317 für den Monat Dezember vom 20. Dezember 2010 (Nr. 34 und 35 Bundestagsdrucksache 17/4350) erbetenen Auskünfte unter Berufung auf verfassungsrechtlich nicht tragfähige Erwägungen verweigert oder nur unzureichend beantwortet hat. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, die in den genannten parlamentarischen Anfragen erbetenen Auskünfte zu erteilen. |
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2. |
Die Antragsgegnerin hat den Deutschen Bundestag und die Antragsteller zu 1., zu 2. und zu 5. in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass sie die mit den Fragen 1, 4, 6, 8, 11, 14 und 18 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3740) erbetenen Auskünfte unter Berufung auf verfassungsrechtlich nicht tragfähige Erwägungen verweigert oder nur unzureichend beantwortet hat. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, die in den genannten parlamentarischen Anfragen erbetenen Auskünfte zu erteilen. |
|
3. |
Die Antragsgegnerin hat den Deutschen Bundestag und die Antragsteller zu 3., zu 4. und zu 5. in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass sie die mit den Fragen 1, 2, 3, 4, 5 und 13 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3757), die mit den Fragen 16 - 19 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3766) sowie die mit den Fragen 1 - 14 der Kleinen Anfrage vom 4. Oktober 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3149) erbetenen Auskünfte unter Berufung auf verfassungsrechtlich nicht tragfähige Erwägungen verweigert hat. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, die in den genannten parlamentarischen Anfragen erbetenen Auskünfte zu erteilen. |
Antragsteller: |
1. |
Dr. Gerhard Schick, |
2. |
Hans-Christian Ströbele, |
|
3. |
Dr. Anton Hofreiter, |
|
4. |
Winfried Hermann, |
|
5. |
Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/ |
- Bevollmächtigter:
-
Prof. Dr. Christoph Möllers,
Adalbertstraße 84, 10997 Berlin -
Antragsgegnerin: |
die Bundesregierung, |
- Bevollmächtigter:
-
Prof. Dr. Stefan Korioth,
Himmelreichstraße 2, 80538 München -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König,
Maidowski,
Langenfeld
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. und 10. Mai 2017 durch
für Recht erkannt:
- Die Antragsgegnerin hat
- den Antragsteller zu 1. und die Antragstellerin zu 5. sowie den Deutschen Bundestag durch die Antworten vom 27. Dezember 2010 auf die Schriftliche Frage Nummer 34 der Bundestagsdrucksache 17/4350, soweit diese sich auf den beim Verkauf der IKB Deutsche Industriebank AG erzielten Kaufpreis bezieht, und auf die Schriftliche Frage Nummer 35 der Bundestagsdrucksache 17/4350,
- die Antragsteller zu 1. und zu 2. und die Antragstellerin zu 5. sowie den Deutschen Bundestag durch die Antworten auf die Fragen 1, 4, 6, 8, 11 und 18 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3740),
- den Antragsteller zu 3. und die Antragstellerin zu 5. sowie den Deutschen Bundestag durch die Antworten auf die Fragen 1 bis 5 und 13 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3757), auf die Frage 16 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3766) und auf die Fragen 1 bis 14 der Kleinen Anfrage vom 4. Oktober 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3149)
- in deren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt.
- Der Antrag zu 3. wird hinsichtlich des Antragstellers zu 4. insgesamt sowie hinsichtlich des Antragstellers zu 3. und der Antragstellerin zu 5. insoweit verworfen, als er sich auf die Beantwortung der Fragen 17, 18 und 19 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3766) durch die Bundesregierung bezieht.
- Die Anträge werden insoweit verworfen, als sie darauf abzielen, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die...
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