Urteil vom 17. Dezember 2013 - 1 BvR 3139/08
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2013:rs20131217.1bvr313908 |
Judgement Number | 1 BvR 3139/08 |
Citation | BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2013 - 1 BvR 3139/08 - Rn. (1-333), |
Date | 17 Diciembre 2013 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2013
- 1 BvR 3139/08 -
- 1 BvR 3386/08 -
-
Nach Art. 14 Abs. 3 GG kann eine
Enteignung nur durch ein hinreichend gewichtiges
Gemeinwohlziel gerechtfertigt werden, dessen Bestimmung dem
parlamentarischen Gesetzgeber aufgegeben ist.
Das Gesetz muss hinreichend bestimmt regeln, zu welchem Zweck, unter welchen Voraussetzungen und für welche Vorhaben enteignet werden darf. Allein die Ermächtigung zur Enteignung für „ein dem Wohl der Allgemeinheit dienendes Vorhaben“ genügt dem nicht -
Dient eine Enteignung einem Vorhaben, das
ein Gemeinwohlziel im Sinne des Art. 14 Abs. 3
Satz 1 GG fördern soll, muss das enteignete Gut
unverzichtbar für die Verwirklichung dieses Vorhabens
sein.
Das Vorhaben ist erforderlich im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG, wenn es zum Wohl der Allgemeinheit vernünftigerweise geboten ist, indem es einen substantiellen Beitrag zur Erreichung des Gemeinwohlziels leistet - Eine Enteignung erfordert eine Gesamtabwägung zwischen den für das konkrete Vorhaben sprechenden Gemeinwohlbelangen einerseits und den durch seine Verwirklichung beeinträchtigten öffentlichen und privaten Belangen andererseits
- Der Garantie effektiven Rechtsschutzes gegen Verletzungen der Eigentumsgarantie wird nur genügt, wenn Rechtsschutz gegen einen Eigentumsentzug so rechtzeitig eröffnet wird, dass im Hinblick auf Vorfestlegungen oder den tatsächlichen Vollzug des die Enteignung erfordernden Vorhabens eine grundsätzlich ergebnisoffene Überprüfung aller Enteignungsvoraussetzungen realistisch erwartet werden kann
- Das Grundrecht auf Freizügigkeit berechtigt nicht dazu, an Orten im Bundesgebiet Aufenthalt zu nehmen und zu verbleiben, an denen Regelungen zur Bodenordnung oder Bodennutzung einem Daueraufenthalt entgegenstehen sofern sie allgemein gelten und nicht gezielt die Freizügigkeit bestimmter Personen oder Personengruppen einschränken sollen
-
Art. 14 GG schützt den Bestand des
konkreten (Wohn-)Eigentums auch in dessen gewachsenen
Bezügen in sozialer Hinsicht, soweit sie an örtlich
verfestigten Eigentumspositionen anknüpfen.
Art. 14 GG vermittelt den von großflächigen Umsiedlungsmaßnahmen in ihrem Eigentum Betroffenen einen Anspruch darauf, dass bei der Gesamtabwägung das konkrete Ausmaß der Umsiedlungen und die mit ihnen für die verschiedenen Betroffenen verbundenen Belastungen berücksichtigt werden.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 3139/08 - |
Verkündet am 17. Dezember 2013 Wagner Amtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle |
über
die Verfassungsbeschwerden
I. | des Herrn P… |
Niddastraße 74, 60329 Frankfurt -
gegen a) | den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. September 2008 - BVerwG 7 B 20.08 -, |
b) | das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 2007 - 11 A 1194/02 -, |
c) | das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 10. Dezember 2001 - 9 K 691/00 -, |
d) | den Widerspruchsbescheid des Landesoberbergamts Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 2000 - 07.1-1999-174 -, |
e) | den Zulassungsbescheid des Bergamts Düren vom 22. Dezember 1997 - g 27-1.2-3-1 - |
- 1 BvR 3139/08 -,
II. | des Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V., vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Holger Sticht, Merowingerstraße 88, 40225 Düsseldorf, |
Niddastraße 74, 60329 Frankfurt -
1. | unmittelbar gegen |
a) | den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. November 2008 - BVerwG 7 B 52.08 (7 B 21.08) -, |
b) | den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Oktober 2008 - BVerwG 7 B 21.08 -, |
c) | das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 2007 - 11 A 3051/06 -, |
d) | das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 6. Juni 2006 - 3 K 3061/05 -, |
e) | den Grundabtretungsbeschluss der Bezirksregierung Arnsberg vom 9. Juni 2005 - 81.04.2 r 204-1-1 -, |
2. | mittelbar gegen § 77 und § 79 BBergG |
- 1 BvR 3386/08 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Kirchhof,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 2013 durch
für Recht erkannt:
- Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 3139/08 wird zurückgewiesen.
- Der Grundabtretungsbeschluss der Bezirksregierung Arnsberg vom 9. Juni 2005 - 81.04.2 r 204-1-1 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 6. Juni 2006 - 3 K 3061/05 -, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 2007 - 11 A 3051/06 - und der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Oktober 2008 - BVerwG 7 B 21.08 - verletzen den Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 3386/08 in seinen Grundrechten aus Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.
- Dem Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 3386/08 haben das Land Nordrhein-Westfalen drei Viertel und die Bundesrepublik Deutschland ein Viertel seiner notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen behördliche und gerichtliche Entscheidungen im Zusammenhang mit der Realisierung eines Braunkohlentagebauvorhabens in Nordrhein-Westfalen. Der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 3139/08 wendet sich gegen die Zulassung des Rahmenbetriebsplans für den Tagebau Garzweiler I/II, der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 3386/08 gegen eine Grundabtretung, die zu Lasten eines in seinem Eigentum stehenden Grundstücks verfügt wurde.
I.
1. Der Abbau von Braunkohle in Deutschland erfolgt in großflächigen Tagebauen. Für die ökonomisch sinnvolle Realisierung von Vorhaben sind regelmäßig die Inanspruchnahme besiedelter Flächen und damit auch die Umsiedlung ganzer Ortschaften notwendig. Die gewonnene Braunkohle wird zum weit überwiegenden Teil zur Verstromung eingesetzt. Der Anteil von Braunkohle an der Stromerzeugung in Deutschland liegt seit Jahren bei über 20 Prozent.
2. In Nordrhein-Westfalen wird Braunkohle auf der gesetzlichen Grundlage des Landesplanungsrechts und des Bergrechts gewonnen.
a) Das Landesplanungsgesetz in der für die Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen maßgeblichen Fassung aufgrund der Neubekanntmachung vom 29. Juni 1994 (GV. NRW S. 474 - im Folgenden LPlG 1994) sieht für die Gewinnung von Braunkohle eine besondere Form der Landesplanung in Gestalt von Braunkohlenplänen vor.
Die Braunkohlenpläne legen im Braunkohlenplangebiet Ziele der Raumordnung und Landesplanung fest, soweit es für eine geordnete Braunkohlenplanung erforderlich ist (§ 24 Abs. 1 LPlG 1994). Das Braunkohlenplangebiet umfasst gemäß § 25 Abs. 2 LPlG 1994 ganz oder zum Teil das Gebiet der Kreise Aachen, Düren, Euskirchen, Erftkreis, Heinsberg, Neuss, Rhein-Sieg-Kreis, Viersen sowie der kreisfreien Städte Köln und Mönchengladbach; die Abgrenzung im Einzelnen überlässt das Landesplanungsgesetz einer Rechtsverordnung (§ 25 Abs. 3 LPlG 1994; vgl. die Verordnung über die Abgrenzung des Braunkohlenplangebietes vom 31. Oktober 1989, GV. NRW S. 538). Aufgestellt wird ein Braunkohlenplan vom Braunkohlenausschuss, einem Sonderausschuss des Bezirksplanungsrates des Regierungsbezirks Köln (vgl. §§ 26 ff. LPlG 1994). Bei Aufstellung eines Braunkohlenplanes ist in aller Regel eine Umweltverträglichkeitsprüfung (§ 24 Abs. 3 LPlG 1994) und eine Prüfung der Sozialverträglichkeit durchzuführen (§ 32 Abs. 1 LPlG 1994); außerdem findet eine förmliche Beteiligung der Öffentlichkeit statt (§ 33 LPlG 1994). Braunkohlenpläne bedürfen der Genehmigung der Landesplanungsbehörde im Einvernehmen mit den fachlich zuständigen Ministerien und im Benehmen mit dem für die Landesplanung zuständigen Ausschuss des Landtags (§ 34 Abs. 1 Satz 1 LPlG 1994).
b) aa) Braunkohle ist gemäß § 3 Abs. 2 des Bundesberggesetzes vom 13. August 1980 (BGBl I S. 1310; BBergG) ein bergfreier Bodenschatz. Wer Braunkohle gewinnen will, bedarf gemäß § 6 Satz 1 BBergG der Bewilligung oder des Bergwerkseigentums.
Gewinnungsbetriebe dürfen nur auf Grund von Plänen geführt werden, die vom Unternehmer aufgestellt und von der zuständigen Behörde zugelassen worden sind (§ 51 Abs. 1 Satz 1 BBergG). Für die Errichtung und Führung eines Betriebes sind Hauptbetriebspläne für einen in der Regel zwei Jahre nicht überschreitenden Zeitraum aufzustellen (§ 52 Abs. 1 Satz 1 BBergG). Die zuständige Behörde kann verlangen, dass für einen bestimmten längeren, nach den jeweiligen Umständen bemessenen Zeitraum Rahmenbetriebspläne aufgestellt werden, die allgemeine Angaben über das beabsichtigte Vorhaben, dessen technische Durchführung und voraussichtlichen zeitlichen Ablauf enthalten müssen (§ 52 Abs. 2 Nr. 1 BBergG). Die Zulassung eines Betriebsplanes im Sinne des § 52 BBergG hängt von der Erfüllung der in § 55 Abs. 1 BBergG genannten Voraussetzungen ab, die vornehmlich den Schutz vor betrieblichen Gefahren im Blick haben, und daneben von der Einhaltung der allgemeinen Verbote und Beschränkungen nach § 48 BBergG.
Die zwangsweise Inanspruchnahme eines Grundstücks für bergbauliche Zwecke erfolgt im Wege der so genannten Grundabtretung. Vorschriften über deren...
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...solchen komplexen Verfahren nicht von vornherein verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2013 - 1 BvR 3139/08 u.a. "Garzweiler II" - BVerfGE 134, 242 Rn. 194). Das Verfassungsrecht gibt nicht grundsätzlich vor, auf welche Weise - durch einen phasensp......
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