Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rs20200226.2bvr234715 |
Judgement Number | 2 BvR 2347/15 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. (1-343), |
Date | 26 Febrero 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
Zum Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020
- 2 BvR 2347/15 -
- 2 BvR 651/16 -
- 2 BvR 1261/16 -
- 2 BvR 1593/16 -
- 2 BvR 2354/16 -
- 2 BvR 2527/16 -
- a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben
- b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.
- c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.
- Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.
- a) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen.
- b) Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen.
- Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.
- Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.
Verkündet
am 26. Februar 2020
Fischböck
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2347/15 -
- 2 BvR 651/16 -
- 2 BvR 1261/16 -
- 2 BvR 1593/16 -
- 2 BvR 2354/16 -
- 2 BvR 2527/16 -
über
I. |
die Verfassungsbeschwerden |
1. |
des Herrn F…, |
|
2. |
des Herrn Dr. L…, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
- 2 BvR 2347/15 -,
II. |
die Verfassungsbeschwerde |
des Vereins S… e.V., vertreten durch seine Vorstandsmitglieder, den Vorsitzenden Dr. K…, den stellvertretenden Vorsitzenden B… und den Schriftführer S…, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
- 2 BvR 651/16 -,
III. |
die Verfassungsbeschwerden |
1. |
des D…, vertreten durch den Generalsekretär M…, |
|
2. |
des D… e.V., vertreten durch die Mitglieder des Vorstands L… und M…, |
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3. |
des Herrn M…, |
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4. |
der Frau L…, |
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5. |
der Frau G…, |
|
6. |
des Herrn G…, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
- 2 BvR 1261/16 -,
IV. |
die Verfassungsbeschwerde |
des Herrn Dr. med. d. R…, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
- 2 BvR 1593/16 -,
V. |
die Verfassungsbeschwerden |
1. |
des Herrn Dr. med. B…, |
|
2. |
der Frau Dr. med. V…, |
|
3. |
der Frau Dr. med. S…, |
|
4. |
des Herrn Dr. med. V…, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
- 2 BvR 2354/16 -,
VI. |
die Verfassungsbeschwerden |
1. |
des Herrn A…, |
|
2. |
der Frau Dr. med. P…, |
|
3. |
des Herrn Prof. R…, |
|
4. |
der Frau S…, |
|
5. |
des Herrn S…, |
- Bevollmächtigter: zu Ziff. 1., 2., 4., 5.
-
… -
- 2 BvR 2527/16 -
gegen |
§ 217 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 2177) |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Masing,
Huber,
Hermanns,
Kessal-Wulf,
König,
Maidowski,
Langenfeld
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. und 17. April 2019 durch
für Recht erkannt:
- Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
- § 217 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 2177) verletzt die Beschwerdeführer zu I. 1., I. 2. und VI. 5. in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, die Beschwerdeführer zu II. und III. 2. in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, die Beschwerdeführer zu III. 3. bis III. 5. und VI. 2. in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 und aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes sowie die Beschwerdeführer zu III. 6., IV., V. 1. bis V. 4. und VI. 3. in ihren Grundrechten aus Artikel 12 Absatz 1 und aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Vorschrift ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.
- Die Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers zu VI. 1. und der Beschwerdeführerin zu VI. 4. haben sich durch deren Tod erledigt.
- Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu III. 1. wird verworfen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern – mit Ausnahme des Beschwerdeführers zu III. 1. – die notwendigen Auslagen für die Verfassungsbeschwerden zu erstatten.
Inhaltsverzeichnis | |
Rn. | |
A. Sachbericht | 1 |
I. Einführung | 1 |
II. Verfahrensgegenstand und Regelungskontext | 8 |
1. Die Regelung des § 217 StGB | 8 |
a) Wortlaut | 9 |
b) Gesetzgebungsverfahren | 10 |
aa) BTDrucks 18/5373 | 11 |
bb) BTDrucks 18/5374 | 12 |
cc) BTDrucks 18/5375 | 13 |
dd) BTDrucks 18/5376 | 14 |
c) Das begleitende Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland (HPG) | 15 |
2. Rechtshistorie | 16 |
a) Altertum, Mittelalter und frühe Neuzeit | 17 |
b) Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland | 18 |
3. Bisherige Strafrechtsdogmatik | 23 |
4. Einordnung des § 217 StGB | 24 |
III. Rechtsvergleichung | 26 |
1. Schweiz | 27 |
2. Niederlande | 28 |
3. Belgien | 29 |
4. Oregon | 30 |
5. Kanada | 31 |
IV. Verfassungsbeschwerden | 33 |
1. 2 BvR 2347/15 | 33 |
a) Die Beschwerdeführer | 34 |
b) Beschwerdevorbringen | 35 |
aa) Grundrechtlicher Schutz des Rechts auf assistierte Selbsttötung | 36 |
bb) Eingriff | 37 |
cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung | 38 |
2. 2 BvR 651/16 | 41 |
a) Der Beschwerdeführer (S. e.V.) | 42 |
b) Beschwerdevorbringen | 46 |
aa) Schutz durch Art. 9 Abs. 1 GG | 47 |
bb) Eingriff | 48 |
cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung | 49 |
(1) Legitimer Regelungszweck | 50 |
(2) Geeignetheit | 51 |
(3) Erforderlichkeit | 52 |
(4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn | 53 |
3. 2 BvR 1261/16 | 56 |
a) Die Beschwerdeführer | 56 |
aa) Der Beschwerdeführer zu III. 1. (D.) | 57 |
bb) Der Beschwerdeführer zu III. 2. (D. e.V.) | 62 |
cc) Die Beschwerdeführer zu III. 3. und III. 4. | 65 |
dd) Die Beschwerdeführerin zu III. 5. | 66 |
ee) Der Beschwerdeführer zu III. 6. | 67 |
b) Beschwerdevorbringen | 68 |
aa) Vorbringen der beschwerdeführenden Vereine | 69 |
bb) Vorbringen der übrigen Beschwerdeführer | 70 |
4. 2 BvR 1593/16 | 71 |
a) Der Beschwerdeführer | 71 |
b) Beschwerdevorbringen | 72 |
aa) Grundrechtlicher Schutz ärztlicher Suizidhilfe | 73 |
bb) Strafbarkeit ärztlicher Suizidhilfe infolge unzureichender Bestimmtheit des § 217 StGB | 74 |
5. 2 BvR 2354/16 | 75 |
a) Die Beschwerdeführer | 76 |
b) |
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