Beschluss vom 01. August 2017 - 2 BvR 3068/14
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2017:rk20170801.2bvr306814 |
Date | 01 Agosto 2017 |
Judgement Number | 2 BvR 3068/14 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 3068/14 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S …, |
- Bevollmächtigte:
-
STV Rechtsanwälte, Kanzlei für Unternehmens- &
Kapitalanlagerecht, Rizzastraße 51, 56068 Koblenz -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 21. November 2014 - 5 U 732/14 -, |
b) |
das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. Oktober 2014 - 5 U 732/14 - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
am 1. August 2017 einstimmig beschlossen:
- Das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. Oktober 2014 - 5 U 732/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 21. November 2014 - 5 U 732/14 - gegenstandslos. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Koblenz zurückverwiesen
- Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen Arzthaftungsprozess. Der Beschwerdeführer (Augenarzt und Beklagter im Ausgangsverfahren) wendet sich gegen die abweichende Würdigung seiner in erster Instanz erfolgten Parteianhörung durch das Berufungsgericht ohne erneute Anhörung.
I.
1. Der Kläger im Ausgangsverfahren vor dem Landgericht Koblenz (1 O 53/14) litt unter Kurzsichtigkeit. Zu deren Korrektur ließ er am 12. September 2007 durch den Beschwerdeführer beidseitig eine LASIK-Operation (Laser-in-situ-Kerato-mileusis) durchführen, wobei es sich um eine Methode innerhalb der refraktiven Chirurgie handelt.
Der Kläger hatte sich zum Zwecke dieser Behandlung erstmals am 14. August 2007 in der augenärztlichen Praxis des Beschwerdeführers vorgestellt. Bei diesem Termin wurden erste Untersuchungen und eine Anamnese durchgeführt. Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Ausgangsprozess sei der anstehende Eingriff hier bereits ausführlich erörtert und dabei auch angesprochen worden, dass das Risiko einer nicht mehr behebbaren Sehverschlechterung und im Ex-tremfall der Erblindung bestehe. Der Beschwerdeführer trug weiter vor, dass dem Kläger an diesem Tag zudem ein umfangreicher schriftlicher Aufklärungsbogen ausgehändigt worden sei, in welchem dieses Risiko ebenfalls aufgeführt sei.
Am 12. September 2007 befand sich der Kläger zur Durchführung der Operation in der Praxis des Beschwerdeführers. Unter dem 12. September 2007 unterzeichnete der Kläger auch ein Formular zur Dokumentation eines Aufklärungsgesprächs, in welchem unter anderem angekreuzt ist, dass der Kläger einen Aufklärungsbogen gelesen und verstanden habe. Der Beklagte fügte - ergänzend zu einem vorgedruckten Vermerk, dass mögliche Komplikationen und risikoerhöhende Besonderheiten des Eingriffs erörtert worden seien - handschriftlich hinzu, dass „Entzündungs-Zeichen, Relasik-Möglichkeiten“ besprochen worden seien und „keine Garantie für Sehleistungen ohne Brille“ gegeben werde.
Der Kläger hat im Verlauf des Prozesses zwar eingeräumt, dass sich auf diesem Formular seine Unterschrift befinde, aber durchgängig bestritten, dass er den Aufklärungsbogen erhalten habe.
Alsbald nach der LASIK-Operation kam es bei dem Kläger zu einer inneren Hornhautentzündung und in deren Folge zu einer Verminderung der Sehkraft auf etwa 50 %. In einem Ende 2008 durchgeführten Schlichtungsverfahren kam der beauftragte Gutachter zu dem Ergebnis, dass dem Beklagten kein Behandlungsfehler vorgeworfen werden könne.
2. Der Kläger nahm den Beschwerdeführer mit Feststellungsklage vom 28. November 2013 vor dem Landgericht dem Grunde nach auf Schadensersatz für alle Schäden in Anspruch, welche durch die Operation verursacht wurden, insbesondere für die Verschlechterung der Sehkraft. Der Kläger ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer für diese Folgen einzustehen habe, weil die gebotene Risikoaufklärung unterblieben sei. Nach seinem Vortrag hätte er sich - jedenfalls nicht ohne die Einholung zusätzlicher Expertisen - nicht operieren lassen, wenn die Risikoaufklärung ordnungsgemäß erfolgt wäre. Seine Einwilligung in die Operation sei daher unwirksam, und der Beschwerdeführer habe ihm Schadensersatz wegen rechtswidriger Behandlung zu leisten.
Der Kläger führte in seiner Klagebegründung aus, dass er vor der Operation von dem Beschwerdeführer mit keinem Wort darüber aufgeklärt worden sei, dass der geplante LASIK-Eingriff auch zu einer Verschlechterung der Sehfähigkeit führen könne. Die Aufklärung habe während der vom Beschwerdeführer durchgeführten Untersuchung stattgefunden. Das Risiko des Misslingens oder einer Verschlechterung der Sehkraft habe der Beschwerdeführer nicht einmal andeutungsweise erwähnt. Dieser habe im Gegenteil geäußert, dass man durch die LASIK-Operation „jedenfalls 100 % rausholen könne“, womit er im Gesprächszusammenhang zweifelsfrei habe zum Ausdruck bringen wollen, dass der Eingriff mit Gewissheit eine hundertprozentige Sehfähigkeit bewirken werde. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer ihn während der Voruntersuchung auch nicht ordnungsgemäß aufklären können. Denn es sei eine Pupillenerweiterung durchgeführt worden, die dazu führe, dass die Pupille unbeeinflussbar vergrößert und die Netzhaut überaus unangenehmen Lichtblendungen ausgesetzt werde. Unter diesen Umständen habe ein Aufklärungsgespräch nicht stattfinden dürfen.
3. Der Beschwerdeführer hat Klageabweisung beantragt und in seiner Klageerwiderung vorgetragen, dass er den Kläger besonders ausführlich mündlich über Chancen und Risiken aufgeklärt habe, da dieser im Anamnesebogen die Frage, ob er schon einmal über Chancen und Risiken einer refraktiven Chirurgie beraten worden sei, mit „Nein“ beantwortet habe. Dabei habe er auch darauf hingewiesen, dass es selbst bei einem lege artis ausgeführten Eingriff zu einer Verschlechterung der Sehfähigkeit kommen könne. Sämtliche in dem Informationsblatt über die Laserbehandlung dargestellten Risiken und mögliche Komplikationen seien im mündlichen Aufklärungsgespräch zwischen den Parteien erörtert worden. Der Kläger habe Gelegenheit gehabt, alle noch offenen Fragen mit ihm zu erörtern. Er habe dem Kläger zudem einen Aufklärungsbogen ausgehändigt, aus dem das Risiko einer Verminderung der Sehkraft hervorgegangen sei. Zum Beweis für die vorgetragenen Tatsachen bot der Beschwerdeführer seine Parteivernehmung an.
4. Das Landgericht hat in Kammerbesetzung am 3. April 2014 in mündlicher Verhandlung zunächst Beweis erhoben durch Vernehmung des Beschwerdeführers als Partei. Dabei äußerte sich der Beschwerdeführer wie folgt:
Ich kann mich sehr genau an den Fall des Klägers erinnern. Dies deshalb, weil Komplikationen aufgetreten sind. Es ist so, dass wir vor einem derartigen Eingriff vier Wochen zuvor eine ausführliche Voruntersuchung durchführen. Im Anschluss an diese Voruntersuchung wird dem Patienten ein Aufklärungsbogen überreicht. Diese Untersuchung dauert etwa zwei Stunden. Während dieser Zeit sehe ich den Patienten mehrfach, nämlich insgesamt drei Mal und weise ihn dabei darauf hin, ob eine Indikation zur Durchführung der LASIK-Operation besteht. Den Aufklärungsbogen hat der Kläger natürlich erhalten. Überreicht wurde der Aufklärungsbogen, der als Anlage B 2 zur Gerichtsakte gereicht worden ist.
Anschließend hörte das Landgericht den Beschwerdeführer lediglich weiter als Partei an, und ausweislich des Protokolls führte dieser noch aus:
Im Rahmen des Aufklärungsgespräches bei der Voruntersuchung werden auch die Risiken des beabsichtigten Eingriffs mit dem Patienten besprochen. Es werden insbesondere die am häufigsten vorkommenden Komplikationen wie Entzündungen, Über-Unterkorrektur und Narbenbildung, besprochen. Im Rahmen dieser Voruntersuchung erhält der Patient die schriftlichen Aufklärungsunterlagen auch bereits ausgehändigt, damit er sich zwischen den Treffen mit mir bereits damit befassen kann. Diese nimmt er auch mit nach Hause. Vor der Verabschiedung des Patienten erkundige ich mich ausdrücklich noch nach Unsicherheiten. Wenn ein Patient dann noch unsicher ist, dann wird ein weiterer Termin vereinbart.
An das Aufklärungsgespräch mit dem Kläger kann ich mich im Einzelnen nicht mehr erinnern. Weil ich in dem Anamnesebogen auf Seite 2 bei der Frage, ob bereits über Chancen beziehungsweise Risiken einer refraktiven Chirurgie beraten wurde, ein Nein unterstrichen habe, bin ich mir aber sicher, dass ich mir bei der Aufklärung besondere Mühe gegeben habe.
Den Dokumentationsbogen erhalte ich am Tag der Operation zurück. Ohne diesen zurückbekommen zu haben, operiere ich nie einen Patienten. In diesem Zusammenhang wird dann noch einmal nachgefragt, ob noch Fragen, Unsicherheiten oder Probleme sind. Die von mir angebrachten Ergänzungen auf der Dokumentation habe ich am Tag der Operation auf dieser angebracht. Dabei war der Kläger anwesend. Im Rahmen der Voruntersuchung wird die Sehschärfe bestimmt, die Refraktion, das Dunkelsehen wird bestimmt, ebenso das Pupillenspiel. Außerdem wird die Hornhauttopographie untersucht. Außerdem wird der Augapfel mit Ultraschall untersucht sowie die Netzhaut nach Pupillenerweiterung.
5. Das Landgericht wies sodann mit Urteil vom 22. Mai 2014 die Klage als unbegründet ab. Es kam zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer vor der LASIK-Operation keine ihm...
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