Beschluss vom 10. November 2022 - 1 BvR 1941/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20221110.1bvr194122 |
Date | 10 Noviembre 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 1941/22 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. November 2022 - 1 BvR 1941/22 -, Rn. 1-28, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1941/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12. September 2022 - 27 O 367/22 - |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth
und die Richterinnen Ott,
Härtel
am 10. November 2022 einstimmig beschlossen:
- Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12. September 2022 - 27 O 367/22 - den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes verletzt.
- Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
I.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen eine durch das Landgericht Berlin ohne vorherige Anhörung erlassene einstweilige Verfügung, mit der ihm eine durch E-Mail an den Rundfunk (…) am 26. August 2022 gerichtete Äußerung über den Antragsteller des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Antragsteller), einen Rechtsanwalt, untersagt wurde.
1. Der Beschwerdeführer ist als Syndikusrechtsanwalt Justiziar des (…)-Verlags und nebenberuflich in geringem Umfang als selbständiger Rechtsanwalt in (…) tätig. Anlässlich von Recherchen in Bezug auf den Komplex um die entlassene Intendantin des (…) richtete der Beschwerdeführer als Justiziar des (…)-Verlags am 26. August 2022 unter Verwendung seiner persönlichen Verlags-Adresse eine E-Mail an den (…), in der er mehrere Fragen der Redaktion zum Mandatsverhältnis zwischen dem (…) und dem Antragsteller übermittelte. Die vom Antragsteller gerügte Äußerung des Beschwerdeführers gegenüber dem (…) lautete:
Wie bewerten Sie den Umstand, dass sich (…) als Anwalt des (…) anscheinend (weiterhin) mit (…) privat trifft, die in der gesamten Angelegenheit von Anfang an den Interessen des (…) zuwiderlaufende Interessen gehabt haben dürfte?
Die weiteren Fragen zielten unter anderem darauf ab, wer die Entscheidung getroffen habe, (…) zu mandatieren, weshalb dies geschehen sei, und ob der (…) eine erneute Mandatierung beabsichtige.
a) Durch an dieselbe E-Mail-Adresse des Beschwerdeführers gerichtete E-Mail vom 1. September 2022, 15:29 Uhr, teilte eine durch den Antragsteller bevollmächtigte Rechtsanwältin dem Beschwerdeführer mit, dass dessen Behauptung jeglicher Grundlage entbehre und forderte ihn zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf, der wegen der besonderen Eilbedürftigkeit bis zum selben Abend, 20:00 Uhr, entgegengesehen werde. Da sich der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt in Urlaub befand, erhielt die Bevollmächtigte des Antragstellers umgehend eine automatisierte Abwesenheitsnotiz mit dem Inhalt:
Vielen Dank für Ihre Nachricht.
Ich bin am 12. September 2022 wieder telefonisch und per E-Mail zu erreichen. Bitte sprechen Sie mich dann erneut an.
Aus Gründen der Vertraulichkeit wird Ihre Nachricht nicht weitergeleitet.
Mit freundlichen Grüßen
(…)
b) Am Folgetag, dem 2. September 2022, 16:27 Uhr, wiederholte die Bevollmächtigte des Antragstellers durch an dieselbe E-Mail-Adresse des Beschwerdeführers und in Kopie an einen weiteren Justiziar des (…)-Verlags versandte E-Mail ihre Aufforderung und gab dem Beschwerdeführer „letztmalig“ Gelegenheit, die geforderte Erklärung bis 20:00 Uhr desselben Tages abzugeben.
c) Eine Woche später, am 9. September 2022, beantragte der Antragsteller bei der Pressekammer des Landgerichts Berlin den Erlass einer einstweiligen Verfügung, durch die dem Beschwerdeführer die abgemahnte Äußerung untersagt werden sollte. In seiner Antragsschrift wiederholte er zunächst, dass die Behauptung des Beschwerdeführers jeglicher Grundlage entbehre. Ergänzend führte er aus, dass er Frau (…) „nicht (weiterhin) getroffen“ habe, „nicht nach ihrer Abberufung durch den Rundfunkrat des (…) am 15.08.2022 und auch nicht danach“. Diese Aussage versicherte er in einer der Antragsschrift beigefügten Anlage an Eides statt. Als weitere Anlagen fügte der Antragsteller die E-Mail des Beschwerdeführers an den (…) vom 26. August 2022 bei sowie die an den Beschwerdeführer gerichteten E-Mails vom 1. und 2. September 2022 unter Hinweis darauf, dass eine Rückmeldung in der Sache vollständig ausgeblieben sei.
d) Durch drei Tage später an den Beschwerdeführer gerichtete E-Mail von Montag, dem 12. September 2022, 09:45 Uhr, ließ der Antragsteller den Beschwerdeführer über den eingereichten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung unterrichten und räumte eine nochmalige Stellungnahmemöglichkeit bis 16:00 Uhr desselben Tages ein. Daraufhin bat der Beschwerdeführer um 09:59 Uhr um Übersendung der eidesstattlichen Versicherung, um sich zu deren Inhalt gegebenenfalls einlassen zu können. Nachdem der Antragsteller dem nicht nachkam, monierte der Beschwerdeführer dies durch Telefax von 16:01 Uhr gegenüber dessen Bevollmächtigten und stellte den Tatsachencharakter der beanstandeten Äußerung in Frage. Angesichts einer inhaltsgleich bereits gegen den (…)-Verlag vor dem Landgericht Berlin am 1. September 2022 (Az. 27 O 352/22) erwirkten einstweiligen Verfügung habe der Antragsteller kein Rechtsschutzbedürfnis für einen erneuten Antrag. Jedenfalls fehle es an einer Wiederholungsgefahr. Demgegenüber beharrte die Bevollmächtigte des Antragstellers durch kurze Zeit später, um 17:28 Uhr, an den Beschwerdeführer gerichtete E-Mail auf der Abgabe der geforderten Unterlassungserklärung, für die sie dem Beschwerdeführer eine weitere Frist bis 20:00 Uhr desselben Tages setzte.
e) In Kenntnis der E-Mail des Antragstellers vom 12. September 2022, 09:45 Uhr, und der an diesen durch den Beschwerdeführer kurze Zeit später um 09:59 Uhr herangetragenen Bitte um Übersendung der einstweiligen Verfügung erließ die Pressekammer des Landgerichts Berlin „wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ die einstweilige Verfügung im Laufe desselben Tages wie beantragt und führte zur Begründung aus, das glaubhaft gemachte tatsächliche und rechtliche Vorbringen nebst Anlagen rechtfertige den geltend gemachten Unterlassungsanspruch. Eine Anhörung des Antragsgegners durch das Gericht sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, nicht erforderlich gewesen, weil die Abmahnung der Antragsschrift inhaltlich entspreche.
f) Nachdem der Beschwerdeführer ein im Wege der Zustellung von Anwalt zu Anwalt von ihm unter Übermittlung der einstweiligen Verfügung nebst Anlagen erbetenes Empfangsbekenntnis nicht abgab, wurde ihm der Beschluss des Landgerichts vom 12. September 2022 am 5. Oktober 2022 durch den Gerichtsvollzieher zugestellt. Hiergegen legte er am 6. Oktober 2022 Widerspruch ein. Termin zur mündlichen Verhandlung über den Widerspruch wurde für den 10. November 2022...
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